Cover von Roman: Adonia – Schatten der Vergangenheit. Grundton: grün. Ein kleines ärmlich gekleidetes Mädchen steht vor dem schwarzen Schatten einer erwachsenen Frau. Hintergrund: stilisierte Bäume und ein Schloss. Stimmung des Covers: düster und geheimnisvoll.
Cover von Roman: Adonia – Schatten der Vergangenheit. Grundton: grün. Ein kleines ärmlich gekleidetes Mädchen steht vor dem schwarzen Schatten einer erwachsenen Frau. Hintergrund: stilisierte Bäume und ein Schloss. Stimmung des Covers: düster und geheimnisvoll.

Adonia  - Schatten der Vergangenheit

Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Erinnerungen kamen immer schneller an die Oberfläche und die Angst wurde quälender. Sie konnte das nicht so einfach abschütteln. Ihre Rache war das Einzige, das diese Erinnerungen verstummen ließ. Vergebung? Niemals!

 

Die furchtbaren Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit bestimmen bis heute das Handeln von Gräfin Adonia. Sie nutzt ihre Macht und ihre magischen Fähigkeiten dazu, an denjenigen Rache zu üben, die sie für ihr Leid verantwortlich macht. Außer ihrer Zofe Danika vertraut sie niemandem. Mit ihrer Hilfe beginnt Adonia ihre quälenden Ängste hinter sich zu lassen und Hoffnung auf ein neues Leben in Frieden zu schöpfen. Doch dann zetteln ihre Untertanen einen Aufstand gegen Adonia an und drohen alles zu vernichten, was sie sich aufgebaut hat. Als sich auch Danika von ihr abwendet, bewahrheiten sich Adonias schlimmste Befürchtungen.

 

Adonia – Schatten der Vergangenheit ist ein Fantasy-Roman über den Kampf zweier ungleicher Frauen. Während Gräfin Adonia mit ihren inneren Dämonen kämpft, leidet Zofe Danika unter der Einsamkeit, die der Dienst für die Gräfin mit sich bringt. Sie muss sich zwischen ihrer Loyalität zur Gräfin und ihrer frisch erblühenden Liebe zu Jannick entscheiden.

Adonia - Schatten der Vergangenheit Was vorher geschah

Gräfin Adonia wird immer noch von ihren Erinnerungen gequält. Sie bestimmen ihr Handeln bis zum heutigen Tag. Doch wie kam es dazu? Warum hält sie unerbittlich an ihrer Rache fest, obwohl ihr die ganze Welt offen steht? Hier erfahrt ihr, was es mit der Wandlung zur Hexe und ihrem Schwur nach ewiger Rache auf sich hat und wie sie Gräfin zu Dörenberg wurde.

Das Ende einer Hexe

 

„Tue, was ich dir sage!“
Der feste Griff um Adonias Handgelenk schmerzte. Sie machte sich steif, stemmte sich in die entgegengesetzte Richtung. Die Alte zerrte nur stärker an ihrem Arm. Unerbittlich näherten sie sich der Truhe, die auf einer Kommode neben dem Kamin stand. 
„Lassen Sie mich los! Ich will nicht!“ Wieder warf sich Adonia mit Schwung in die andere Richtung. Sie hatte das Gefühl, ihr Arm würde gleich abreißen.
„Stell dich nicht so an!“
Es rauschte in Adonias Ohren, die Stimme der alten Frau drang kaum zu ihr durch. Sie wollte hier weg. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie keuchte vor Anstrengung, Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Ihr Instinkt schrie ihr zu, endlich zu verschwinden. Doch sie konnte sich nicht losmachen. Ihre Kräfte schwanden zusehends. Die Alte schien nicht einmal außer Atem zu sein. Adonia schwankte, und ihre Beine gaben unter ihr nach.
Überrascht von der plötzlich fehlenden Gegenwehr, wankte auch die Alte und ließ sie los. Sie versuchte noch, Adonia erneut zu packen, doch Adonia mobilisierte mit der Macht der Verzweiflung ihre letzten Kräfte und warf sich mit ihrem ganzen Körper gegen die Beine der Alten. Diese fiel mit einem überraschten Aufschrei hintenüber. Mit Wucht schlug sie mit dem Hinterkopf auf den Kaminsims. Das knirschende Geräusch, das Adonia bei dem Aufprall hörte, ging ihr durch und durch. Es klang endgültig.
Die Alte stürzte in das prasselnde Kaminfeuer und blieb darin liegen. Rasch züngelten die ersten Flammen an dem Kleid der Frau und setzten es in Brand. Auf Knien krabbelte Adonia vom Kamin weg und rappelte sich hoch. Sie wollte nur fort, doch sie konnte den Blick von der Alten im Feuer nicht abwenden. Die Flammen fraßen sich in ihr Gesicht und verzehrten ihre Hände, Adonia konnte bereits Knochen sehen. Es stank nicht nur nach verbrennendem Fleisch. Eine bittere Note schwang mit, und ihr wurde übel. Erstarrt stand sie vor dem Kamin. Ihr Verstand flehte sie an, endlich zu verschwinden, doch ihr Körper regte sich nicht. Nun brannten auch die Knochen, und nach kurzer Zeit zerfielen die Reste zu Asche. Adonia rang mühsam nach Luft, versuchte, die Angst zurückzudrängen und ihre erstarrten Glieder in Bewegung zu setzen. Was ging hier nur vor sich? Kein Mensch verbrannte so schnell. Aus dem Aschehaufen züngelten noch einige spärliche Flammen, und langsam erloschen sie. 
Der Raum um sie herum verschwand, die Farben verwischten, und als sie wieder klar sehen konnte, hatte sich das Aussehen des Raums verändert. Adonia sah sich angespannt um. Was erwartete sie nun als Nächstes? Die Truhe befand immer noch auf der Kommode neben dem Kamin. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes stand keine Blumenvase mehr, auf ihm lag nun eine großes in Leder gebundenes Buch. Regale säumten die Wände und in ihnen drängten sich Gläser, gefüllt mit Insekten, getrockneten Würmern, Spinnen und Fröschen. Flaschen gefüllt mit trüber Flüssigkeit standen neben irdenen Töpfen. Kräuterbündel hingen von den Dachbalken herab, daneben getrocknete Pilze an einer Schnur aufgereiht. 

Die Verwandlung

 

Adonia hörte nur ihren hektischen Atem. Mit Mühe kämpfte sie gegen die Angststarre an, die sie wieder überfallen wollte. Ihr war immer noch übel, von dem Gestank, der den Raum erfüllte. Dies war kein gewöhnliches Haus. Dies musste das Heim einer Hexe sein. Einer echten Hexe! Es gab sie also doch. Sie waren nicht nur Hirngespinste einiger einfältiger Bauern. Adonia atmete tief durch, versuchte, den beißenden Geruch zu ignorieren. Die Hexe war tot, sie konnte ihr nichts mehr tun. Sie musste jetzt nur von hier verschwinden. 
Endlich konnte sie sich regen, doch als sie einen Schritt in Richtung Tür machte, erhob sich eine Wolke aus der Asche, als ob ein Windstoß sie aufgewirbelt hatte. Sie legte sich nicht wieder, sondern waberte einen Augenblick im Kamin und schwebte dann zögerlich in Adonias Richtung. In dem einfallenden Sonnenlicht schimmerten die Partikel grün. Adonia machte einen weiteren Schritt zur Tür. Ihr standen die Haare zu Berge. Erst verbrannte die Hexe in wenigen Augenblicken und nun diese unheimliche Wolke aus Staub. Die Staubwolke folgte ihr langsam. Wieder machte Adonia einen Schritt und noch einen. Rücklings tastete sie nach dem Türgriff, als die Wolke ein knurrendes Geräusch erzeugte und sich auf sie stürzte. Sie hüllte sie ein, die Partikel legten sich auf ihre Haut und drangen in ihren Rachen, in ihre Nase und tief in ihre Lunge ein. Adonia fuhr sich über die Arme, versuchte, den Staub abzustreifen, doch er sickerte in ihre Haut. Es brannte. Erst an der Oberfläche, dann setzte es sich immer tiefer fort. Adonia schrie, doch nur ein Krächzen drang aus ihrer Kehle. Sie fiel auf die Knie, dann sank sie ganz zu Boden. Sie bekam keine Luft mehr. Das Brennen war überall. Sie wälzte sich vor Schmerzen auf den Dielen, bis sie schließlich das Bewusstsein verlor.

Hunger nach mehr

 

Adonia tat einen tiefen Atemzug. Langsam öffnete sie die Augen und sah Kräuterbündel und Holzbalken. Mit einem Ruck setzte sie sich auf, als die Erinnerung mit Gewalt zurückkam. Sie strich sich mit den Händen über die Arme, doch sie sahen normal aus. Der Staub war verschwunden. Auch bekam sie wieder Luft und hatte keine Schmerzen mehr. Langsam kam sie auf die Füße. Unschlüssig sah sie sich um. Sie sollte nun wirklich gehen, bevor noch weitere merkwürdige Dinge passierten. Doch etwas hielt sie zurück.
Ihr Blick fiel auf die Truhe. Diese geheimnisvolle Truhe. Warum hatte die Hexe gewollt, dass sie hineinschaute? Adonia schüttelte den Kopf. Sie sollte diesen unheimlichen Ort wirklich verlassen. Schon war sie an der Tür, hatte den Griff in der Hand, zog die Tür auf und atmete tief die frische Luft ein, die in den verrauchten Raum strömte, als sich ihr Magen meldete. Richtig, sie war mit der Alten mitgegangen, weil sie Hunger hatte. Zögernd ließ sie die Türklinke los und drehte sich wieder um. Auch Hexen mussten essen. Es würde schon nicht schaden, zu schauen, ob sie nicht etwas Essbares finden würde.
Sie ging in einem Bogen an der Kommode neben dem Kamin vorbei und warf der Truhe einen misstrauischen Blick zu. Ihr würde sie sich auf gar keinen Fall nähern.
An der Seite des Kamins war ein kleiner Backofen angebaut. Sie legte vorsichtig die Hand drauf, er war warm. Hinter der unteren Klappe fand sie nur Asche, hinter der oberen jedoch verbarg sich ein frisch gebackenes Fladenbrot. Sein Duft vertrieb den Gestank endgültig. Sie holte es heraus und legte es auf dem Kamin ab, bevor sie sich die Finger verbrannte. Sie schaute in den Schrank, der neben dem Feuerholz und dem Korb mit Reisig stand. Ein breites Grinsen trat in ihr Gesicht und sie merkte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Sie hatte noch nie so viele Köstlichkeiten auf einmal gesehen, geschweige denn probiert. Was sollte sie nur zuerst essen? Sie entschied sich für ein Stück Käse. Sie brach sich von dem immer noch dampfenden Brot etwas ab und schlenderte die Regale entlang, während sie dies hungrig in sich hineinstopfte. Die Insekten sahen irgendwie gar nicht mehr so schaurig aus, genauso wenig wie die eingefallenen Schafsaugen, die sie in einem der tönernen Töpfe fand. Adonia hatte fast das Gefühl, als wüsste sie, wofür man all dies brauchte, konnte es aber nicht fassen. Ein kurzer Blick hinter die Tür neben dem Vorratsschrank zeigte ihr ein Bett und in dem Schrank, der im Schlafzimmer stand, fand sie eine beachtliche Anzahl an Kleidungsstücken. Die Hexe hatte kein schlechtes Leben geführt.
Schließlich hatte sie so viel gegessen, dass ihr Bauch spannte. Aber noch immer verspürte sie Hunger. Wieder glitt ihr Blick zu der Truhe. Hatte der Hunger mit ihr zu tun? Irgendwie war es so. Sie spürte es tief in sich drin, nicht nur im Bauch. Was hatte das nur zu bedeuten?

Die geheimnisvolle Truhe

 

Vorsichtig näherte sie sich der Kommode. Sie streckte die Hand nach der Truhe aus, zog sie aber zurück, bevor ihre Finger das Holz berührten. Sollte sie einfach hineinschauen? Aber die Hexe hatte ihr bestimmt nichts Gutes tun wollen, daher sollte sie vorsichtig sein. Irgendwo in diesem Haus musste sich doch herausfinden lassen, was es mit dieser Truhe auf sich hatte. Sie sah sich ratlos um und ihr Blick fiel auf den Tisch und das dicke Buch, das darauf lag. Zögernd ging sie zum ihm, strich vorsichtig über die aufgeschlagene Seite. Dann zog sie den Stuhl zurück und setzte sich. Langsam fing sie an, im Buch zu blättern. Es war voller Rezepte. Die Schrift war schnörkelig, schwer zu entziffern, aber lesbar. Sie fand Rezepte für einen Liebestrank, einen Wahrheitstrank und einen Gefügigkeitstrank. Den musste die Hexe in den Tee gemischt haben. Sie schüttelte sich angeekelt. Die Schafsaugen gehörten in diesen Trank hinein. Fasziniert las sie die Beschreibung für die Wirkung des Wirklichkeitspulvers. Eine Kostprobe hatte sie ja gesehen. Die Hexenhütte hatte wie ein gemütliches Heim ausgesehen.
Sie stützte das Kinn in die Hand und träumte ein wenig. Das eigene Aussehen verändern, unerkannt bleiben. Heute wurde ihr schon gedroht, wenn man sie nur von Weitem sah. Sie konnte sich kaum bei Tageslicht in das Dorf wagen. Sie blätterte weiter. Ganz am Anfang stand die Geschichte von Aaron Darende, dem ersten Zauberer. Würde sie hier die Antwort finden, was es mit der Truhe auf sich hatte? Sie blätterte durch die Seiten. Es würde eine Weile dauern, bis sie diese gelesen hatte. Genug gegessen hatte sie, aber ihren Durst hatte sie noch nicht gestillt.
Entschlossen stand sie auf und holte den Sack, der nach Pfefferminze gerochen hatte, aus dem Schrank. Sie nahm eine Handvoll der getrockneten Blätter und füllte sie in den Kessel, der immer noch am Kaminrand lag. Wo sollte sie Wasser finden? Die Hexe lief bestimmt nicht stundenlang durch den Wald, um Wasser zu holen. Vielleicht hatte sie sich einen Brunnen gegraben? Sie nahm den Kessel, ging zur immer noch offenen Tür, und wieder hielt ein unbestimmtes sie Gefühl zurück. Als ob das Haus nicht wollte, dass sie ging, oder eher ... Ihr Blick wanderte wieder zur Truhe. „Ich komme wieder. Ich hole nur Wasser“, sagte sie laut in den Raum hinein, kam sich dabei sehr albern vor, doch der Drang, im Haus zu bleiben, ließ nach.

Es prasselte wieder ein behagliches Feuer im Kamin und der Tee war aufgesetzt. Das Wasser aus dem Brunnen hatte köstlich frisch, fast süß geschmeckt. Adonias schlimmster Durst war gestillt, nun konnte sie sich der Geschichte von Aaron Darende, dem ersten Zauberer, widmen. Adonia setzte sich zurecht, blätterte zur ersten Seite zurück und strich andächtig über das vergilbte Pergament. 

Ein Leben für ein Leben
Die Geschichte eines Zauberers (Teil 1)

 

Nun will ich euch meine Geschichte erzählen, auf dass sie euch die Augen öffnet und euch eine Lehre zugleich ist. Wenn ihr dies lest, dann seid ihr so wie ich auserwählt, habt euch mit dem lebenden Staub vereint und genießt die Kraft, die er euch schenkt. Ich war der Erste, der ihn gefunden und seine wahre Macht erkannt hat. Doch ich will am Anfang beginnen.
Mein Name ist Aaron Darende. Ich diente Baram Aldana als Schafhirt, wie mein Vater seinem Vater gedient hatte. Es war ein einfaches, wenn auch hartes Leben, doch ich war zufrieden. Ich war noch jung, hatte mir kein Weib gesucht und eine Familie gegründet. Ich war noch voller Träume. Ich stellte mir vor, wie es wäre, nach Skala ans Meer zu ziehen. Wenn die alten Hirten am Lagerfeuer Geschichten spannen, erzählten sie auch vom Meer. Diese Abenteuer hörte ich besonders gerne. Wie spannend musste es sein, mit einem dieser Schiffe hinauszusegeln und die großen Fische zu jagen. Die Geschichten lenkten mich von dem immer gleichen Tagesablauf ab. Früh melkten wir die Ziegen, dann brachten wir sie auf die Weide hinter den Feldern, am Rand der Wüste. Abends trieben wir sie wieder zurück in den Stall.
Eines Tages mussten wir nach einer Ziege suchen, die sich von der Herde zurückgezogen hatte, um ihr Lamm zur Welt zur bringen. Wir hatten uns aufgeteilt, und ich ging weiter in Richtung Wüste. Immer wieder rief ich nach ihr und versuchte, sie aus ihrem Versteck zu locken. Das Gras wurde trockener, die Büsche kleiner und seltener. Langsam bedeckte Sand die Grasbüschel. Ich wollte schon aufgeben zur Weide zurückkehren, als ich ein Leuchten bemerkte.
Ich musste noch ein Stück weitergehen und sah über eine weite Fläche schwarze Steine verstreut. Die Dämmerung setzte langsam ein, und so fiel mir das unnatürliche Licht auf. Einige der Gesteinsbrocken leuchteten für kurze Zeit auf, und dann erlosch ihr Strahlen wieder. Ich fand das merkwürdig. Was waren das für Steine?
Ich erinnerte mich, dass vor einigen Tagen ein Feuerball am Himmel zu sehen gewesen war und es einen lauten Knall gegeben hatte. Dann war ein heißer Wind über die Weiden und Felder gefegt. Niemand hatte nachgesehen, was da vom Himmel gefallen war. Die Menschen in dieser Gegend waren recht abergläubisch. Sie wollten ihre Seelen nicht in Gefahr bringen, wenn sie sich einem möglichen Übel näherten, das in einem Feuerball vom Himmel gestürzt war. Aber dennoch war es seit Tagen das Gesprächsthema. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Auch mich kostete es allen Mut, nicht gleich die Flucht bei diesem unnatürlichen Leuchten zu ergreifen.

Ein Leben für ein Leben
Die Geschichte eines Zauberers (Teil 2)

 

Ich wagte mich ein Stück näher heran, um besser sehen zu können. Ein großer Teil der Steine lag auf dem blanken dunklen Fels. Der Wind musste den Sand weggeblasen haben. Er hatte so eine weite flache Mulde gebildet, an deren Rand sich der Sand aufhäufte.
Eine der Echsen, die in der Wüste lebten, näherte sich den Steinen. Vermutlich zog die wohlige Wärme sie an, die diese Stelle immer noch ausstrahlte. Nächte in der Wüste sind kalt. Sie blieb vor einem der Gesteinsbrocken wie angewurzelt stehen. Der Stein leuchtete auf und im gleichen Moment fing das Tier zu zucken an und löste sich auf. Es verschwand einfach. Als das Strahlen nachließ, war auch die Echse verschwunden.
Ich stand wie erstarrt da und wagte nicht, mich zu rühren. Was waren das nur für Dinger? Wohnte in ihnen ein böser Geist? Ich fühlte ein Sehnen. Es weckte in mir den Wunsch, mich den Steinen zu nähern. Lockte es auch die Tiere an? Nun wand sich eine Schlange auf den felsigen Untergrund und wurde von einem der Gesteinsbrocken eingefangen. So sah es aus. Die Steine lockten die Lebewesen der Wüste an und fingen sie ein. Sie wollten auch mich in Versuchung führen. Nur mit größter Willenskraft drehte ich mich um. Ich wollte schnell von diesem Ort verschwinden.
Ein paar Meter weiter hörte ich ein Lämmchen meckern und fand die Ziege hinter einem der Büsche. Ich schulterte das Lamm und machte mich auf den Weg zurück zur Herde.
Lange konnte ich in dieser Nacht nicht schlafen. Immer wieder ging mir die Frage durch den Kopf, was mit der Echse und der Schlange geschehen war. Wohin waren sie verschwunden? Was hatten die Steine mit ihnen gemacht? Was hätten sie mir angetan, wenn ich ihnen zu nahe gekommen wäre? Die Tiere hatten sich gewunden, als ob sie Schmerzen litten, dennoch waren sie nicht geflohen, als ob die Steine sie festgehalten hatten.

Ein Leben für ein Leben
Die Geschichte eines Zauberers (Teil 3)

 

Die Gedanken der letzten Nacht ließen mich auch am nächsten Tag nicht los. Die Neugier war größer als meine Furcht. Als die Herde auf die Weide getrieben war und wir es uns am Feuer gemütlich gemacht hatten, gab ich vor, nach den neuen Lämmern vom letzten Tag sehen zu wollen. Den anderen war es recht, hatten sie gerade frischen Tee in den Bechern. Die Morgen waren nach den kalten Nächten noch frisch, und sie genossen es, sich noch eine Weile am Feuer wärmen zu können. Sie diskutierten das helle Leuchten am Himmel, und ich verkniff mir jedes Wort, ihnen zu bestätigen, dass da etwas Unheimliches zur Erde gefallen war, etwas, das andere Lebewesen tötete. Am Feuer Geschichten zu spinnen, was es gewesen sein könnte, war viel einfacher und viel gemütlicher. Aber ich wollte es genau wissen. So stellte ich meinen Becher mit dem noch dampfenden Tee ab und ging über die Weide. Ich hielt Ausschau nach den Lämmchen, und als alles in Ordnung zu sein schien, lief ich zurück zu der Stelle, wo ich die seltsamen Steine gefunden hatte. Bei Sonnenlicht konnte ich sehen, dass sie mit kleinen grünen Flecken bedeckt waren, als ob Flechten auf ihnen wachsen würden. Ich fand es merkwürdig, dass diese den Sturz von Himmel und die Hitze, die beim Aufprall entstanden war, überstanden hatten.
Wieder spürte ich den Sog, als ob sie mich locken wollten. Doch ich widerstand, wusste ich doch, was mir geschehen würde. Ich wartete eine Weile, die Sonne kroch höher. Wenn ich nicht bald zurückkehrte, würden mich die anderen vermissen. Doch meine Geduld wurde belohnt. Eine kleine Echse näherte sich, sie lief an einem Stein vorüber, der fast komplett mit Sand bedeckt war. Sie stockte kurz, wurde aber nicht von ihm eingefangen. Sie lief weiter auf den felsigen Untergrund und blieb vor einem der freiliegenden Steine stehen. Dieser leuchtete auf und die Echse fing an, zu zucken und sich zu winden, während sie sich langsam auflöste. Mir standen die Haare zu Berge. Diese Steine fraßen Lebewesen.
Mir kam ein Gedanke. Ich ging zurück, brach einen Stock von einem der Büsche und eilte erneut zur Mulde. Ich hoffte, dass die anderen noch in ihre Geschichten vertieft waren und mein langes Fernbleiben nicht bemerken würden. Wieder an der Stelle angekommen, nahm ich mein Kopftuch ab, befestigte es an dem Stock und legte es mit seiner Hilfe über einen der freiliegenden Steine. Nun wartete ich. Die Sonne begann in meinem Nacken zu brennen und Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Spätestens jetzt würden die anderen sich wundern, warum ich nicht zu ihnen in den Schatten der Bäume zurückkehrte. Doch das Schicksal war mir gewogen. Eine weitere Echse, angelockt von den Steinen, kam herbei. Sie lief unbehelligt an dem mit dem Kopftuch bedeckten Gesteinsbrocken vorbei. Ich hielt den Atem an, während meine Gedanken rasten. Die Kräfte der Steine konnten abgeschirmt werden.
Ich angelte mir mein Kopftuch zurück und eilte zur Feuerstelle unter den Bäumen. Die Hirten saßen noch beisammen und diskutierten nun über den Viehmarkt in drei Wochen, wo ein Teil der Lämmer verkauft werden sollte. Ich setzte mich zu ihnen, murmelte, dass alles in Ordnung sei und nippte an meinem nun kalten Tee. In Gedanken war ich noch in der Wüste bei den Steinen. Ich würde mir einen von ihnen holen, gleich am nächsten Morgen.

Ein Leben für ein Leben
Die Geschichte eines Zauberers (Teil 4)

 

Ich lag die halbe Nacht wach und überlegte, wie ich es anstellen konnte, mir einen dieser Steine zu holen. Ich musste ihn verstecken, damit die anderen ihn nicht bemerkten und ihn mir gar wegnahmen. Ich musste ihn fest in Stoff einwickeln und ihn unter meiner Kleidung verbergen, bis wir abends zum Hof zurückkehrten. Dort konnte ich ihn in meine Truhe legen, in der ich meine Habseligkeiten aufbewahrte.
Am nächsten Tag packte ich mein zweites Kopftuch ein, und nachdem ich wieder nach den Lämmern geschaut hatte, ging ich zu der Stelle mit den Steinen. Ich bedeckte einen, der am Rand der Mulde im Sand lag und wickelte ihn fest in den Stoff. Ich steckte ihn in den Beutel, der an meinem Gürtel hing, in dem ich den Proviant für den Tag aufbewahrte. Immer wieder tastete ich danach, spürte leicht das Sehnen und war froh, dass mich mehrere Lagen Stoff von ihm trennten. Was würde ich nun mit ihm tun? Er musste doch einen Nutzen haben. 
Am Abend, als alle schon schliefen, öffnete ich meine Truhe, um ein letztes Mal nach dem Stein zu sehen. Ich hatte ihn bei meiner Rückkehr auf den Gutshof hineingelegt, immer wieder nach ihm geschaut und kurz den Stoff gelüftet. Sofort spürte ich den mächtigen Sog, und der Stein begann zu leuchten. Aber ich konnte jedes Mal den Stoff rechtzeitig fallen lassen, um diesem schrecklichen Schicksal zu entkommen, das all die Tiere ereilt hatte. Aber so kam ich nicht weiter. Es musste doch eine Möglichkeit geben, herauszufinden, was es mit dem Stein auf sich hatte, ohne zu sterben.
Als ich den Stoff wieder ein Stück zur Seite zog, berührte ich dabei seine Oberfläche. Etwas von der grünen Flechte blieb an meinem Finger haften und brannte fürchterlich. Ich ließ den Deckel fallen, und der Knall ließ den Hirten, der neben mir schlief, kurz aus dem Schlaf schrecken. Nur mit Mühe unterdrückte ich die Schmerzenslaute, die sich auf meine Lippen drängten, als sich das Brennen von meinem Finger aus über meinen ganzen Körper ausbreitete. Wenn ich dem Schmerz nachgab, würde ich den ganzen Bauernhof wecken, und ich wusste, was sie mit denen machten, von denen sie glaubten, dass sie von bösen Geistern besessen seien. Das Brennen war weniger schrecklich.
Irgendwann sank ich in gnädige Bewusstlosigkeit. Als ich am nächsten Tag erwachte, ging es mir wieder gut. Die grüne Flechte war von meinem Finger verschwunden, die Schmerzen ebenfalls. Ich hatte Hunger. Was auch immer geschehen war, es schien keine Spuren hinterlassen zu haben. Doch traute ich mich nicht, meine Truhe zu öffnen und nach dem Stein zu schauen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Ein Leben für ein Leben
Die Geschichte eines Zauberers (Teil 5)

 

Ich ging auf die Weide, tat meine Arbeit, doch egal wie viel ich aß und trank, ich hatte stets Hunger. Doch der Hunger saß nicht in meinem Bauch. Irgendwie fühlte es sich an, als ob mein ganzer Körper Hunger hatte. Meine Gedanken wanderten wieder zu dem Stein und wie er Lebewesen auflöste. Nun, ich hatte diese Fähigkeit nicht, denn die Hirten, die neben mir saßen, lösten sich nicht auf. Aber irgendwie hatte dieser Hunger mit dem Stein zu tun. Als ich dies dachte, kamen mir Bilder in den Sinn, wie ich Lebewesen zum Stein brachte, dieser sie auflöste, dann mich mit deren Lebensenergie fütterte und so den Hunger stillte, den ich fühlte. Mir dämmerte, dass die grüne Substanz immer noch in mir sein musste, dass sie mich durchzog, wie ein Wurzelgeflecht die Erde. Was würde geschehen, wenn ich ihm die Nahrung verweigerte? Würde es sterben? Der Hunger verschärfte sich für einen Moment. Mir wurde schlecht, und ich krümmte mich gequält zusammen. Gewissheit machte sich in mir breit. Es würde ohne Nahrung sterben, irgendwann. Doch weitere Bilder erschienen in meinen Gedanken. Warum sollte ich es sterben lassen? Ich hätte einen Nutzen davon, es zu füttern. Es erzeugte in mir Bilder, wie ich für immer jung bleiben würde, wie ich die Wirklichkeit ändern, andere Lebewesen manipulieren könnte. Die Bilder in meinem Kopf zeigten mich als Herrscher, als reichen Mann, als Mann, den die Frauen begehrten. Ich konnte alles sein, was ich mir erträumte, wenn ich nur die Substanz, das Wesen in mir, mit der Lebensenergie anderer Lebewesen fütterte. Mein Herz schlug heftig in meiner Brust. Ich konnte diesem eintönigem Leben entkommen, das nichts als Abhängigkeit für mich bereithielt. Ich konnte frei sein, die Welt bereisen, aufs Meer segeln. Ein paar Echsen oder Mäuse würde ich als Futter schon finden.
Am Abend, als alle schliefen, nahm ich den Stein mit in den Stall. Ich trug ihn in Stoff gewickelt an die Brust gedrückt. Ich fühlte wieder das Sehnen, doch nach kurzer Zeit verschwand es, als ob der Stein die Substanz in mir erkannt hatte. Ich wusste, ich konnte ihn nun auswickeln und berühren, ohne dass er mir etwas tun würde.
Wenn ihr euch also eurem Stein nähert, gebt ihm etwas Zeit, euch zu erkennen. Er spürt euch auch durch eine Abschirmung hindurch. Sprecht einen Spruch in Gedanken oder auch laut, aber verweilt einige Augenblicke, bevor ihr ihn freilegt, damit er euch nicht verletzt.

Ein Leben für ein Leben
Die Geschichte eines Zauberers (Teil 6)

 

Ich trug den Stein in den Stall und legte ihn an eine Stelle, wo sich immer Mäuse tummelten. Es dauerte nicht lange, bis er Nahrung fand. Neugierig näherte ich mich ihm, und als ich ganz dicht bei ihm war, leuchtete er wieder auf und gab die eben gewonnene Energie an mich ab. Doch sie stillte den Hunger nicht, verringerte ihn nur geringfügig, und mir wurde klar, dass ich mehr brauchte als nur ein paar Mäuse. Je kleiner und einfacher das Lebewesen, desto geringer die Energie, die gewonnen werden konnte. Mit mir als Wirt war der Bedarf an Energie gewachsen, ein paar Kleintiere reichten nicht. Ich brauchte mehr. Das würde ein Problem werden. Wo sollte ich größere Lebewesen als Opfer finden?
Eine Ziege hatte das Gatter geöffnet und näherte sich, ohne dass ich es merkte, zu sehr war ich in meinen Gedanken versunken. Erst als sie neben mir stand und neugierig die Nase zum Stein senkte, bemerkte ich sie, doch es war zu spät. Er hatte sie eingefangen und löste sie auf. Erschrocken konnte ich dem nur zusehen. Was sollte ich tun? Man würde am Morgen das Fehlen der Ziege bemerken. Die Hirten waren dafür verantwortlich, dass sie sicher im Stall verschlossen waren. Man würde uns für ihr Verschwinden bestrafen.
Mein Herz pochte heftig, mein ganzer Brustkorb bebte. Ich wollte das nicht abwarten. Ich nahm den Stein, um ihn einzuwickeln. In dem Moment gab er mir die Lebensenergie der Ziege. Es war wie ein Erwachen, eine zweite Geburt. Meine Sinne schärften sich, mein Körper kribbelte bis in die Haarspitzen, ich war hellwach. Meine Gedanken rasten. Ich musste mich entscheiden, was ich tun wollte. Wenn ich blieb, würde alles beim Alten bleiben. Wenn ich ging, dann jetzt. Mein Blick wanderte zu dem Gatter, das die neugierige Ziege ein Stück aufgeschoben hatte. Die nächste streckte schon den Kopf heraus. Entschlossen nahm ich den Stein und legte ihn vor sie. Ich wollte ihn aufladen, soviel er vertrug, und dann würde ich meine Sachen packen und gehen. Nicht weit von hier, ein Stück weiter den Fluss hinunter in Richtung Meer ragten felsige Hügel bis an den Wüstenrand. Dort waren einige Höhlen, in denen ich rasten konnte, bis ich entschieden hatte, wie es weitergehen sollte. Ich wartete eine Weile, und als der Stein sechs Ziegen aufgelöst hatte, wickelte ich ihn ein. Er hätte noch weitere Energie speichern können. Doch ich ahnte, tief in mir, dass auch größere Tiere nicht genug sein würden. Ich befürchtete, dass das Opfer, dass ich für meine Unsterblichkeit und die versprochene Macht aufbringen musste, viel größer war.

Ein Leben für ein Leben
Die Geschichte eines Zauberers (Teil 7)

 

Noch in der Nacht verließ ich den Hof von Baram Aldana für immer und folgte dem Fluss bis zu den Felsen. Nun, da ich nicht mehr auf dem Hof weilte, wenn das Verschwinden der sieben Ziegen entdeckt werden würde, würde man mir die Schuld zuschieben. Vielleicht wurde so den anderen Hirten die Strafe erspart. Ich richtete mich in einer der Höhlen weiter weg vom Fluss ein, doch wusste ich, dass ich hier nicht lange bleiben konnte. Sie würden gewiss nach mir suchen. Ich wollte die Hitze des Tages hier verbringen, ein wenig schlafen und dann in der Nacht weiter nach Süden ziehen. Ich machte Feuer, um mir einen Tee zu kochen. Ich war nach der langen Wanderung durstig und die Wärme würde mir guttun, denn in der Höhle war es kalt.
Als die ersten Flammen am Reisig züngelten, schreckte ich davor zurück. Es war merkwürdig, denn sonst hatte ich keine Angst vor Feuer. Wieder erschienen Bilder in meinem Geist. Eine Warnung vor der alles verzehrenden Hitze des Feuers. Die Substanz, die sich mit mir vereint hatte, hatte meinen Körper verändert. Er würde so schnell verbrennen, wie die Flammen das Reisig verzehrten. Ich musste von nun an sehr vorsichtig mit Feuer sein. Ich wunderte mich, wie die Substanz den Sturz auf die Erde überlebt hatte, denn es geschah ja in einem Feuerball. Aber die Gefahr schien erst in der Verbindung mit mir zu entstehen. Und dazu erfuhr ich auch, dass der Stein, der Energieumwandler, sollte er voll mit Lebensenergie geladen sein, ebenfalls von Hitze bedroht war, dass diese ihn zerstören konnte. Er hatte den Sturz nur deshalb überstanden, weil er kaum Lebensenergie geladen hatte.
Es ist kompliziert und nicht einfach zu verstehen. Was ihr euch merken müsst: Haltet euch und den Stein von Flammen fern. Seid sehr vorsichtig, wenn ihr mit Feuer hantiert!
Ich wurde in der Abenddämmerung von Hundegebell geweckt. Auf ihrer Suche waren sie mir bis zu den Höhlen gefolgt. Ich verhielt mich still, hoffte, dass sie mich nicht finden würden. Das Gebell und die Stimmen kamen näher und ich griff nach meinem Messer, um mich zu verteidigen, wenn es sein musste.
Während ich darauf wartete, dass der erste Hund am Höhleneingang auftauchte, erinnerte ich mich an meine Träume. Sie waren voller wundersamer Dinge gewesen, die ich tun könnte, zu denen ich fähig sein sollte. Träume von Dingen, die Zauberei glichen. Vage Ideen von Tränken krochen durch meine Gedanken, Liebestränke, Tränke mit denen ich andere gefügig machen konnte oder sie dazu bringen würde, mir die Wahrheit zu sagen.
 Das Hundegebell und die Stimmen entfernten sich, sie gaben auf. Ich atmete auf. Ich zog weiter nach Süden nach Skala und sah das Meer. Ah, das Meer, meine Freunde. So unendlich und gleichzeitig so wild. Ich lebte in Skala für einige Monate, stahl, was ich zum Leben brauchte. Dort opferte ich auch den ersten Menschen für mein neues Leben. Es war ein Bettler. Seine Lebensenergie füllte den Stein in einem Maße, wie es ein Tier nie vermocht hatte. 

Ein Leben für ein Leben
Die Geschichte eines Zauberers (Teil 8)

 

Wenn ihr dieses Buch lest, habt ihr euch dazu entschieden, dass auch ihr dieses Opfer bringen wollt. Tiere erfüllen den Zweck leidlich, doch ihr werdet mit ihrer Energie nie die Ergebnisse erzielen, die ihr mit einem Menschenleben erreichen könnt. Es wird euch ein Stück eurer Seele kosten, aber euer Lohn wird unermesslich sein. Er ist den Preis wert. 
 Ich füllte den Stein, doch hatte kaum Möglichkeit, meine Fähigkeiten zu erforschen. Ich drehte mich im Kreis. Ich brauchte einen Ort und Ruhe, um herauszufinden, wie ich meine Fähigkeiten nutzen konnte. Mit den Bildern in meinen Gedanken konnte ich nur bedingt etwas anfangen, sie waren keine konkreten Anweisungen.
Ich fand eine einsame Hütte ein Stück weg von der Stadt zwischen den Hügeln. Ihre Besitzer hatten sie verlassen. Der Garten war zugewuchert, viele wilde Kräuter und Pflanzen hatten sich seiner bemächtigt. Dort ließ ich mich nieder und experimentierte. Mischte Kräuter, Beeren, Pilze, Teile von Tieren, die ich vorher trocknete. Bei jedem Experiment floss etwas von meiner Energie in die Tränke und Pulver und verband die Zutaten zu etwas Neuem.
Die Rezepte meiner Anstrengungen findet ihr in diesem Buch. Sie werden euch gute Dienste leisten. Sie werden euch nicht beim ersten Mal gelingen. Es braucht Zeit und Übung, um den Zutaten das richtige Maß an Energie zukommen zulassen, damit sie ihre Wirkung voll entfalten. Doch habt Geduld, ihr werdet es lernen.
Ich arbeitete emsig und erforschte mein Können. Ich stellte auch Heilsalben und Kräutermischungen zur Stärkung her, die ich mit großem Erfolg in Skala verkaufte. Ich hätte so weiterleben können, doch ich war einsam. Aus Angst vor Entdeckung blieb ich für mich. Die Menschen fürchten das Unbekannte und verfolgen es. Auch wenn ich mich mittlerweile dem Entziehen konnte, wollte ich es doch nicht leichtfertig heraufbeschwören. In meiner einsamen Hütte kam mir der Gedanke, dass es schön wäre, andere wie mich um mich zu haben. Nicht allein der Zauberei mächtig und unsterblich zu sein. Was könnten wir zusammen in dieser Welt erreichen? Wir könnten sie beherrschen, sie uns untertan machen.
Ich beschloss, mich zurück an den Ort zu begeben, an dem ich die Steine gefunden hatte, in der Hoffnung noch einige zu finden, die überlebt hatten. Bei diesen Gedanken füllten sich mein Geist erneut mit Bildern, wie ich die Wirklichkeit zu meinem Gefallen ändern konnte. Ich begriff, dass auch die Steine selbst von Nutzen wären, auch wenn das Lebewesen darin bereits gestorben war. Sie würden mir ermöglichen, unerkannt durchs Leben zu gehen, wann immer ich es wünschte. Sie würden mir Schutz geben, wann immer ich ihn brauchte. Sie waren der Schlüssel zu dem wichtigsten Zauber.
So erwarb ich einige Maulesel und ging zurück zu der Stelle in der Wüste, wo alles begann. Ich sammelte alle Steine ein, die ich fand. Ein knappes Dutzend war noch am Leben. Ich fütterte sie und machte ich mich auf die Suche nach euch, meine Gefährten. Dieses Buch ist mein Geschenk an euch. Nutzt das Wissen gut und weise.

Neues Leben

 

Adonia lehnte sich zurück. Ihr Herz klopfte heftig in ihrer Brust. Immer wieder strich sie sich über die Arme. Die grüne Substanz war also nun in ihr. Sie hatte das Feuer überlebt und sich ... Wie hatte es Aaron Darende genannt? ... einen neuen Wirt gesucht. Wieder war ihr erster Impuls, zu fliehen, die Hütte und die Truhe hinter sich zu lassen. Doch der Hunger wurde schlimmer und sie krümmte sich unter den Krämpfen zusammen. Wie lange würde das andauern? Der Zauberer hatte geschrieben, dass es irgendwann vorüber sein würde, dass die Substanz nach einer gewissen Zeit starb. Die Krämpfe verstärkten sich und sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.
Lange konnte sie das nicht aushalten. Und überhaupt, warum sollte sie? Was war so schlimm daran, zaubern zu können? Die Schmerzen ließen nach. Sie sah zur Truhe, stand langsam auf und ging zur Kommode. Nach kurzem Zögern legte sie die Hand darauf. Würde der Stein darin sie erkennen? Woher sollte sie wissen, wann es ungefährlich war? Sie fühlte nichts, kein Sehnen, wie Aaron Darende es beschrieben hatte, keine Angst. Da war nichts. Sie holte tief Luft und klappte den Deckel hoch. Der Stein glomm schwach auf und wurde wieder dunkel. Hunger füllte ihren ganzen Körper aus. Sie rieb sich den schmerzenden Bauch. Der Stein musste vollkommen leer sein, die Kraft vollständig aufgebraucht. Kein Wunder, dass die Hexe so verzweifelt gewesen war. Adonia klappte den Deckel wieder zu. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Was sollte sie nun tun? Der Stein erwartete ein Menschenopfer. Damit konnte man ihn am besten aufladen. Aber die Vorstellung erschreckte Adonia. Sie hatte sich zwar oft vorgestellt, wie sie anderen Schmerzen zufügte, ihnen Gewalt antat, um ihnen ihre Ablehnung und Brutalität heimzuzahlen. Ja, in ihren Fantasien hatte sie auch schon jemanden getötet. Aber in echt? Das konnte sie nicht. In der Erzählung des Zauberers stand ebenfalls, dass Tiere diesen Zweck erfüllen konnten, wenn auch nicht so gut. Sie konnte zumindest versuchen, den Hunger zu stillen. Sie konnte kaum klar denken, weil er ihr ganzes Bewusstsein ausfüllte. Sie nickte entschlossen. Sie hatte in den letzten Jahren gelernt, Fallen zu stellen und immer wieder Kaninchen gefangen. Sie war auf dem Weg zu ihren Fallen gewesen und hatte halt an dem Busch voller Beeren gemacht, als sie der Hexe begegnet war. Sie legte die Hand auf die Truhe. „Keine Sorge, ich kümmere mich um dich.“ 

Das erste Opfer

 

Eine nach der anderen ging sie ihre Fallen ab. Alle waren leer. Langsam wuchs Verzweiflung in ihr. Sie brauchte ein Tier für den Stein. Ihre letzte Falle kam in Sicht. Ein Kaninchen kauerte zitternd auf dem Boden, einen Fuß in der Schlinge. Neben ihm hockte ein kleines Mädchen, streichelte es und fingerte dabei an der Schlinge.
„Halt, das ist meins!“ Adonia fing an zu laufen. Das Mädchen schreckte auf und lockerte dabei die Schlinge. Das Kaninchen befreite sich und hoppelte davon. „Warum hast du das gemacht? Das ist meine Falle!“ Adonia starrte wütend auf die Kleine. Sie erkannte sie. Sie war das jüngste Kind von dem Bauern, der die Schafherde hatte, dessen Weide an den Wald grenzte. Sie war deutlich jünger als sie. Ihr Kleid, das ihren dünnen Körper bedeckte, war nicht weniger zerschlissen als Adonias. Sonst hatte Adonia immer eine Art Verbundenheit zu ihr gefühlt, wenn sie ihr auf ihrer Suche nach Nahrung im Dorf begegnet war, doch jetzt war sie nur wütend. Wo sollte sie denn nun ein Opfer für ihren Stein finden?
Das Mädchen stand auf. „Es tut mir leid. Das Kaninchen hatte solche Angst.“ Sie verstummte und sah Adonia flehend an. „Du hast nicht was zu essen? Ich habe großen Hunger.“ Adonia wollte schon harsch reagieren, doch eine merkwürdige Ruhe machte sich in ihr breit.
Gegen ihren Willen sagte ihr Mund: „Das habe ich. Wenn du mit mir kommst, gebe ich dir etwas. Ich habe auch Zuckerstücke und süße Küchlein, wenn du magst.“ Die Augen der Kleinen fingen an zu leuchten und sie nahm die Hand, die Adonia ihr entgegenstreckte. Wie in Trance führte sie das Kind zu der Hütte. Ihr Verstand versuchte, zu verstehen, was gerade geschah. Ihr war bewusst, dass sie das Mädchen in die Truhe schauen lassen würde und mit Erstaunen und Entsetzen stellte sie fest, dass sie bei dem Gedanken nichts fühlte. Wieso machte es ihr jetzt nichts aus? Vor kurzer Zeit hatte sie der Gedanke an Menschenopfer entsetzt. Das musste die Substanz in ihr sein. Sie musste die Kontrolle übernommen haben.
Sie kämpfte dagegen an, wollte keine willenlose Marionette sein, doch ohne dass sie es verhindern konnte, schob sie das Mädchen zur Truhe und sagte ihr, dass die Süßigkeiten darin wären.
Die Kleine strahlte, leckte sich die Lippen in Vorfreude und klappte den Deckel hoch.
Adonia wich vor dem Licht zurück, das aus der Truhe drang und das Kind in seinem Bann hielt. Genau wie der Zauberer es beschrieben hatte, zuckte die Kleine, riss den Mund auf, schrie lautlos, warf den Kopf in den Nacken und verdrehte die Augen.
Adonias Willen kehrte zurück und mit ihm das Entsetzen. Sie wich zurück, bis sie die Wand hinter sich spürte und ließ sie daran heruntergleiten. Sie umschlang ihre Knie mit ihren Armen, kauerte sich zusammen. Wie gelähmt starrte sie zu dem Mädchen, das sich langsam unter Qualen auflöste. Schließlich klappte der Deckel zu, das Leuchten verschwand. Tränen liefen Adonia über die Wangen. Das hatte sie nicht gewollt.

Neue Lebensenergie

 

Lange hockte Adonia an der Wand und starrte auf die Truhe. Der Hunger in ihr quälte sie, wollte sie dazu bringen, endlich neue Energie zu schöpfen und ihre Reserven aufzufüllen. Es dämmerte schon, als Adonia sich rühren konnte. Langsam kam sie auf die Beine und näherte sich der Truhe. Es war nun einmal geschehen. Sie ahnte, dass es ihr wahrscheinlich unmöglich sein würde, dem Drängen der Substanz in ihr zu widerstehen. Sie konnte sich mit ihr arrangieren und einen eigenen Willen haben oder sie würde ihre willenlose Dienerin sein. Das wollte sie nicht.
Sie legte die Hand auf den Deckel und wartete. Der Zauber hatte empfohlen, dass man etwas sprechen sollte, um die Zeit des Erkennens zu überbrücken. „Ein Leben für ein Leben. Das Leid der anderen sei mein Segen.“ Das passte, so sollte sie es vielleicht sehen. Sie hatte lange genug Not gelitten. Jetzt war sie an der Reihe, ein angenehmes Leben zu führen. Ein Leben ohne Hunger, ohne herumgeschubst und geschlagen zu werden.
Sie hob den Deckel an, das Leuchten des Steines umfing sie, durchdrang sie. Sie fühlte die Wärme und ein Prickeln in jeder Pore ihres Körpers. Der Hunger verschwand. Vorsichtig klappte sie den Deckel zu und atmete durch. Sie fühlte sich lebendig, hellwach. Langsam ging sie zur Tür und öffnete sie. Sie hörte das Gezwitscher der Vögel, lauter, mannigfaltiger als je zu vor. Sie nahm ein Knacken im Untergestrüpp wahr, und als sie in die Richtung schaute, konnte sie den Hirsch im Grün versteckt sehen, wo sie ihn zuvor höchstens hatte erahnen konnte. Nun sah sie das Glänzen seiner Augen, wie er die Nüstern blähte und ihren Geruch aufnahm. Sie war sich sicher, wenn sie jetzt loslief, würde sie ihn einholen und mühelos einfangen können. Sie schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Vielleicht war es das Opfer wirklich wert. Aufmerksam durchsuchte sie erneut die Hütte. In der Kommode fand sie mehrere Kisten mit Münzen und Schmuck. Es war so viel, damit würde sie sich ihr Leben lang versorgen können. Sie richtete sich auf, als sie sich an den Bericht von Aaron Darende erinnerte. Er erwähnte Unsterblichkeit. Sie wog die Münzen in ihrer Hand und legte sie zurück. Nun, sie würden für eine lange Zeit reichen. Ihr Magen meldete sich, diesmal war es wirklich nur Hunger nach Nahrung.
Sie füllte den nun kalten Tee in einen Becher, nahm sich etwas von der getrockneten Wurst, brach sich ein Stück vom Brot ab und setzte sich an den Tisch. Während sie aß, dachte sie nach. Was sollte sie jetzt tun? Das Haus gehörte nun ihr. Mit ein wenig Übung würde sie es verstecken können, damit es niemand fand. Bis dahin gab es genug Mittel, sich vor Neugierigen zu schützen. Sie hätte ein Dach über dem Kopf, es im Winter warm und gemütlich und konnte sich von anderen fernhalten. Frieden haben. In Ruhe und ohne Angst schlafen.
Ihr Hals schnürte sich zu, als sie bei diesen Gedanken große Erleichterung empfand. Vielleicht konnte sie irgendwann wieder unter Menschen gehen, aber es musste nicht jetzt sein. Sie konnte einfach in Ruhe leben und die Zauberkunst erlernen. Und für das Opferproblem würde sie eine Lösung finden, mit der sie gut leben konnte.
Sie verspürte zum ersten Mal in ihrem Leben Zuversicht. Es würde sich nun alles zum Guten wenden. Endlich waren die Jahre der Qual vorbei.
Sie spülte den Becher aus und wischte die Krumen vom Tisch. Sie wusch sich mit dem klaren Wasser aus dem Brunnen und zog das erste Mal in ihrem Leben ein sauberes, heiles Nachthemd an. Das Bett war weich, die Decke schmiegte sich an sie. Mit einem Seufzer drehte sie sich auf die Seite und schlief nach wenigen Augenblicken ein.

Neues Leben

 

Am nächsten Morgen erwachte Adonia erfrischt und ausgeschlafen. Einmal war sie bei einem Knacken vorm Haus aufgeschreckt, aber gleich wieder eingeschlafen. Diese Nacht waren ihre Träume nicht von Menschen, die sie vertrieben oder schlugen durchzogen. Sie hatte auch nicht erneut den Tod ihrer Mutter durchlebt. Sie hatte von ihren neuen Fähigkeiten geträumt und sie brannte darauf, mit dem Unterricht zu beginnen.
Sie stieg aus dem Bett und suchte sich ein Kleid aus. Sie musste es mit einem Gürtel um die Taille raffen, denn es war zu groß, aber sie hatte bei der zweiten Durchsuchung auch Nadel und Faden gefunden. Die Hexe hatte einige Fähigkeiten gehabt. Nun, Adonia hatte viel Zeit zu lernen.
Aber für heute hatte sie andere Pläne. Der Sommer war schon weit fortgeschritten, bald würde der Herbst Einzug halten und mit ihm die Kälte. Sie wollte genug Holz für den Winter schlagen, ein Reh oder einen Hirsch fangen und sein Fleisch pökeln und trocknen. Neben dem Sack Mehl hatte sie auch einen Topf mit Salz gefunden. Die Hexe besaß nicht nur das Zauberbuch, sondern auch eine Reihe von anderen Büchern. Adonia hatte sie gestern neugierig durchgeblättert. Einige Reiseberichte und zwei Abenteuergeschichten waren darunter. Sie hatte auch ein Notizbuch mit Anleitungen gefunden, wie man verschiedene Tiere ausweidete und ihr Fleisch pökelte und Sauerteig für Brot ansetzte. Es befanden sich darin Kochrezepte und viele nützliche Anmerkungen zu Dingen, die sie von ihrer Mutter nie gelernt hatte.
Gestärkt marschierte sie in den Wald, fällte nicht weit von der Hütte einen Baum und zog ihn zu der kleinen Lichtung vor der Haustür. Es war, als ob sie einen Stock hinter sich herschleifte. Sie konnte es kaum fassen, wie leicht es ihr fiel. Bis zum frühen Nachmittag hatte sie den Baum in Scheite gehackt und unter das Dach an die Seitenwände zum Trocknen gestapelt. Das sollte für den Winter reichen.
In der Abenddämmerung lauschte sie nach Wild und musste nicht lange warten. Wieder bewegte sich der Hirsch durch das Unterholz. Adonia hatte sich eines der Messer genommen. Mehr brauchte sie nicht. Sie lief los. Mit ausgreifenden Schritten schloss sie rasch zum fliehenden Hirsch auf und stieß ihm das Messer zwischen die Rippen. Mit einem Blöken brach er zusammen. Sie schnitt ihm die Kehle durch und schleifte auch ihn zur Hütte. Im Schein einer Lampe nahm sie ihn nach Anleitung des Notizbuches aus und zerteilte ihn. Die Fleischbrocken bedeckte sie mit einer Mischung aus Salz und Kräutern. Sie würde sie in zwei Wochen an die Dachbalken der Hütte hängen, so hatte die Hexe es getan.
Müde und zufrieden ging sie nach getaner Arbeit ins Bett. So konnte es weitergehen. Sich um das Haus kümmern, lesen und lernen. Das fühlte sich gut an.

Harte Wirklichkeit

 

Adonia kaute den letzten Rest Brot. Er war schon trocken. Ratlos wischte sie die Krümel vom Tisch. Der Sauerteig, der auf dem Fensterbrett gestanden hatte, war verdorben gewesen. Sie hatte neuen nach der Beschreibung im Notizbuch angesetzt, aber es würde noch dauern, bis er verwendet werden konnte. Sie schüttelte den Kopf, kaum drei Tage waren vergangen und sie hatte sich schon an den Luxus von täglichem Brot gewöhnt. Nachdenklich schaute sie zum Spiegel und stellte sich dann davor. Ohne Dreck im Gesicht und in den sauberen Kleidern der Hexe sah sie ganz anders aus. Wahrscheinlich würde man sie im Dorf gar nicht erkennen. Sie schlang sich ihr Haar zu einem Knoten und setzte eine Haube auf. Sie beäugte sich kritisch und nickte dann. Sie sah definitiv nicht mehr wie die Bettlerin aus, sondern eher wie eine der Bäuerinnen. Sollte sie es wagen? Unschlüssig kaute sie auf ihrer Unterlippe. Zu dumm, dass sie den Wirklichkeitszauber nicht beherrschte. Sie hatte es versucht, aber nichts war passiert. Nur für einen Moment schien es, als ob ihre Gesichtszüge sich verzerrten, dann hatte ihr eigenes Spiegelbild sie wieder angestarrt. Es war nicht so, dass sie nichts zu essen hatte, aber Brot war so eine Seltenheit gewesen und es hatte so gut geschmeckt. Sie seufzte und streckte dann die Schultern durch. Es würde nichts passieren. Sie würde zum Bäcker gehen, ein Brot kaufen und wieder verschwinden. Niemand würde sie erkennen.

Adonia senkte den Kopf bei dem prüfenden Blick, den die Bäckersfrau ihr zuwarf, als sie die Münze aus dem Beutel klaubte. Ihre Finger zitterten. Noch hatte sie niemand erkannt, selbst der Krämer nicht, der ein Stück in der Reihe hinter ihr stand, doch der Blick, den die Frau ihr zuwarf, gefiel ihr nicht. Der Bäcker brachte ein paar dampfende Brotlaibe zum Regal hinter dem Tresen. Auch er sah Adonia an. Seine Stirn runzelte sich. Er kam um den Tresen herum. „Du bist doch das Bettelmädchen.“ Er packte ihre Hand. Münzen fielen auf den Boden. Der Krämer kam hinzu und zog ihr die Kappe vom Kopf.
„Du hast recht, das ist sie.“ Er packte sie an den Armen und schüttelte sie. „Sag schon, wen hast du bestohlen?“
Adonia riss sich los und floh aus der Backstube. Sie hörte Schritte hinter sich und versteckte sich rasch hinter einem offenen Tor. Die beiden Männer kamen schnaufend davor zum Stehen. „Ich weiß, wo sie haust. Du und ich, wir statten ihr heute Nacht einen Besuch ab und machen ihr ein für alle Mal klar, dass sie sich im Dorf nicht mehr blicken lassen soll.“ Das war die Stimme des Krämers gewesen. Sie lugte um die Ecke. Der Bäcker nickte und schlug in die ausgestreckte Hand ein. „Abgemacht, heute Nacht.“
Adonia lehnte sich gegen die Wand. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie gegen die altbekannte Angst ankämpfte. Tränen flossen ihre Wangen hinunter. Womit hatte sie diesen Hass verdient? Sie wollte doch nur leben.

Angst und Zweifel

 

Zurück in der Hexenhütte schleuderte Adonia ihre Tasche von sich und hockte sich verzweifelt in eine Ecke. Was nützte ihr das Geld, wenn sie es nicht ausgeben konnte, ohne angegriffen zu werden? Sollte sie sich wirklich für den Rest ihres Lebens zurückziehen, nie wieder einem anderen Menschen begegnen? Nur weil diese unbarmherzigen Leute ihr nicht einmal ein Stück Brot gönnten? Sie spürte die vertraute Wut in sich hochsteigen. Diesmal würde sie sich das nicht gefallen lassen. Sie konnte vielleicht noch nicht zaubern, aber sie war stark, viel stärker als ein normaler Mann.
Die Sonne würde bald untergehen. Sie würde bei ihrem alten Unterschlupf warten und wenn die beiden wirklich kamen ... Ja, was würde sie dann mit ihnen machen? Die beiden wollten nicht nur mit ihr reden. Prügel war das Geringste, das sie fürchten musste. Wollten die zwei sie gar umbringen, damit sie endlich verschwand?
Ihr Blick wanderte zur Truhe. Wenn die beiden nun wirklich kamen, hatten sie dann nicht das Gleiche verdient? Niemand würde sie finden, wenn der Stein sie aufgelöst hatte. Ihr Herz klopfte so stark, dass ihr ganzer Körper bebte. Wenn sie das tat, gab es kein Zurück mehr.
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Ihr ganzes Leben lang war sie auf der Flucht vor anderen gewesen. War nie in Sicherheit gewesen. Ihr Unterschlupf war das einzige, das sie ihr gelassen hatten, auch wenn sie immer befürchtet hatte, dass man sie eines Nachts von dort verjagen würde. Doch es war nie geschehen und sie konnte kaum glauben, dass die beiden es tatsächlich tun würden.
Sie ging zur Truhe, klappte den Deckel hoch und sprach zum Stein: „Heute entscheidet es sich, es liegt an ihnen. Lassen sie mir meinen Unterschlupf, dann gehen wir fort. Ich nehme dich, das Buch und das Geld und wir fangen neu an, wo uns niemand kennt. Sollten sie aber heute Nacht in meinen Unterschlupf kommen, dann gehören sie dir. Das bedeutet Krieg.“ Sie klappte den Deckel zu. Sie war ganz ruhig geworden. So würde sie es machen. Sie würde mit dem Stein zum Unterschlupf gehen und dort warten. Und morgen, wenn niemand gekommen war und sie über ihre Angst lachen konnte, würde sie ihre Sachen packen und fortgehen, über den Fluss nach Teramo, irgendwohin, wo sie niemand kannte.

Zu viel ist zu viel

 

Vorsichtig wickelte Adonia den Stein in ein Tuch und steckte ihn dann in eine Umhängetasche. Ihr Magen grummelte, denn sie hatte vor Aufregung nichts essen können. In Gedanken war sie hin- und hergerissen. Einerseits hoffte sie, dass sie vergeblich vor dem Unterschlupf warten würde, dass es wie immer nur eine leere Drohung gewesen war. Ihre Mutter hatte sie stets vor anderen Menschen gewarnt, doch Adonia hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sie unrecht hatte. Allerdings war der Gedanke, den beiden Männern die jahrelange Prügel und Vertreibung heimzuzahlen, sehr verlockend. Was für dumme Gesichter sie machen würden, wenn sie merkten, dass sie Adonia nicht mehr so einfach herumschubsen konnten.
Ihr Blick fiel auf den Gehstock der toten Hexe. Sie nahm ihn. Der schwere Knauf lag gut in ihrer Hand. Sie machte sich auf den Weg, als die Dämmerung einsetzte. Es war nicht weit. Sie versteckte sich in den Büschen dicht bei der Ruine und wartete. Sie hörte Tiere im Unterholz rascheln, die Schreie einer Eule. Sie entspannte sich langsam, als der Mond höher stieg. Wie es wohl in Teramo sein würde? Sollte sie dortbleiben oder gleich weiter nach Süden gehen? Vielleicht ans Meer, von dem Aaron Darende erzählt hatte.
Sie hörte knackende Zweige und schwere Schritte. Adonia spannte sich an. Waren es der Bäcker und der Krämer oder nur ein paar Wilderer, die im Schutz der Dunkelheit nach ihren Fallen sahen?
„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“
„Ja, ich habe die Mutter vor vielen Jahren bis hierher verfolgt. Wir sind gleich da.“
Adonia erkannte die Stimmen. Es waren der Bäcker und der Krämer. Sie waren wirklich gekommen. Sie wollten keine Gnade zeigen. Adonia erstarrte. Ihre Brust schnürte sich zu und für einige Augenblicke, glaubte sie zu ersticken. Sie rang nach Luft und sackte kraftlos zusammen, als sie begriff, dass sie vergeblich gehofft hatte. Warum konnten die zwei sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie hatten doch alles, ein Haus, eine Familie und Freunde, eine Zukunft. Warum mussten sie ihr das Wenige, das sie hatte, nun noch wegnehmen? Tränen schossen in ihre Augen und sie drückte sich eine Hand fest auf den Mund, um ihr Schluchzen zu ersticken. Ihre Gefühle waren so in Aufruhr, dass sie es kaum ertragen konnte. Enttäuschung vermischte sich mit Wut. Diese Leute hatten kein Recht dazu, sie zu quälen.
Sie sah zu, wie die Männer den Vorhang zur Seite schoben und den Unterschlupf betraten. Sie kroch aus dem Gebüsch und stellte sich neben den Eingang.
„Sie ist nicht hier!“
„Dann warten wir, bis sie kommt.“
„Was hast du vor?“ Der Bäcker klang unsicher.
„Dafür sorgen, dass sie nie wieder ins Dorf kommt.“
Adonia spürte, wie sie innerlich gefror. Alle ihre Gefühle starben. Sie hatte richtig vermutet. Sie wollten sie umbringen, sie einfach beseitigen wie lästigen Ballast. Ihre Mutter hatte mit ihren Warnungen immer recht gehabt. Sie konnte niemandem trauen. Sie wollten ihr nur Leid antun. Wenn sie überleben wollte, musste sie zuerst handeln.
„Du meinst, du willst sie umbringen?“ Sie hörte das aufgeregte Schnaufen des Bäckers.
„Was hast du denn gedacht? Warum guckst du jetzt so? Sie ist nur eine Bettlerin. Wer weiß, was die für Krankheiten mit sich rumschleppt, wenn sie ins Dorf kommt. Willst du dir was von ihr einfangen?“ Adonia presste vor Wut die Lippen zusammen. Sie war nicht krank! Zumindest nicht mehr als er. Ihr Zorn verdrängte den letzten Zweifel. Sie packte den Gehstock fester. Diese Männer hatten eine Strafe verdient.
„Ich gehe jetzt!“
„Ja, hau nur ab, Feigling. Ich hatte geglaubt, du hast mehr Mumm in den Knochen.“
Adonia hob den Stock, doch der Bäcker eilte an ihr vorbei, ohne sich umzusehen.
„Feigling!“ rief ihm der Krämer laut nach. Adonia sah ihm hinterher. Um den Bäcker würde sie sich später kümmern.

Gerechte Strafe

 

Rascheln und Poltern drang aus dem Unterschlupf. Adonia spähte um die Ecke und sah, wie der Krämer ihr Graslager zerstampfte und im ganzen Raum verteilte. Er zerriss die Decke und Lumpen, die sie als Kleidung nutzte. Er holte einen Feuerstein raus, wohl in der Absicht, das Ganze anzuzünden, überlegte es sich aber. Adonia zuckte zurück, als er sich umwandte und zum Eingang kam. Sie hob den Gehstock. Ihn würde sie nicht gehen lassen. Der Krämer riss den Vorhang von der Öffnung, trampelte einige Momente darauf herum und trat dann aus dem Unterschlupf. Hart traf ihn der Knauf des Gehstockes auf die Stirn. Er verdrehte die Augen, taumelte gegen die Wand und rutschte dann zu Boden. Genugtuung machte sich in Adonia breit, als sie ihn so hilflos vor sich liegen sah. Er würde ihr nie wieder wehtun. Adonia kniete sich neben ihn und hielt eine Hand vor seinen Mund. Er atmete noch. Für einen Moment hatte sie gedacht, dass sie zu hart zugeschlagen hatte.
Sie wickelte den Stein aus, legte ihn neben den Krämer, trat einen Schritt zurück und sah zu, wie der Stein sein Werk verrichtete. Diesmal machte es ihr nichts aus. Er hatte es verdient.
Eine leise Stimme in ihr flüsterte, dass sie immer noch weggehen konnte, dass sie sich nun gerächt hatte und alles hinter sich lassen sollte. Doch sie brachte diese Stimme zum Schweigen. Es würde sich nichts ändern. Wohin sie auch gehen würde, sie bliebe eine Fremde. Und das Fremde würde immer gefürchtet und verfolgt werden. Sie hatten ihre Chance gehabt und sie hatten gezeigt, dass sie schlechte Menschen waren, dass sie keine Gnade verdient hatten.
Adonia packte den Stein ein. Die Dorfbewohner würden bald nach dem Krämer suchen. Sie musste ihr Haus sichern. Sie konnte ihre Hexenhütte noch nicht mit dem Wirklichkeitszauber vor den Blicken Fremder verbergen. Doch die Hexe hatte eine Kräutermischung in einem der Töpfe aufbewahrt, die zumindest Hunde abwehren würde. Sie hatte daran geschnuppert und bei dem beißenden Geruch den Topf schnell wieder verschlossen.
Sie würde sich vorbereiten, sich gut verstecken und ihre Rache planen. Als Erstes würde sie sich den Bäcker holen. Und warum sollte sie nach ihm halt machen? Was war mit all jenen, die ihr nicht beigestanden hatten? Die zugesehen hatten, wenn sie misshandelt wurde, oder sogar noch Beifall geklatscht und die Schläger angefeuert hatten. Sie würde sich an jedem von ihnen rächen. Ihnen das Leben zu nehmen, war zu einfach. Sie sollten Hunger leiden und im Winter frieren. Sie würde ihnen das antun, was sie ihr angetan hatten.
Sie ging zurück in ihre Hütte, die nun ihr Zuhause war. Noch in der Nacht bestäubte sie den Boden und die Büsche in einem weiten Umkreis mit der abwehrenden Kräutermischung. Sie würden sie nicht finden und sie konnte in Ruhe planen, wie sie vorgehen würde.

Schwacher Abwehrzauber

 

Am nächsten Morgen erwachte Adonia aus einem unruhigen Schlaf. Sie hatte lange keine Ruhe gefunden und ihre Träume waren von Händen, die nach ihr griffen und schlugen, durchzogen gewesen. Sie hatte nicht weglaufen können, denn ihre Füße waren mit dem Boden verwachsen gewesen. Ihr Herz pochte noch wild, bei der Erinnerung an die Hilflosigkeit und Verzweiflung, die sie gespürt hatte. Sie atmete tief durch. Sie war in Sicherheit. Niemand würde ihr mehr etwas antun.
Die Farbe des Lichts, das durch das Fenster drang, sagte ihr, dass es noch früher Morgen war. Sie war erst vor wenigen Stunden eingeschlafen. Sie schwang die Beine aus dem Bett. Sie würde jetzt keine Ruhe mehr finden und hatte außerdem viel zu tun. Die Kräutermischung, die sie in der Nacht um ihr Haus verteilt hatte, war fast aufgebraucht und sie musste frische Zutaten sammeln. Es hingen noch einige getrocknete Kräuter an der Decke, aber die würden nicht lange reichen.
Rasch zog sie sich an. Hunger hatte sie nicht, aber sie schaute in die Truhe und frischte ihre Kräfte auf. Sie nahm sich ein Bündel der Abwehrkräuter, damit sie diese besser erkennen konnte. Sie packte es zusammen mit dem Kräuterbuch mit den Zeichnungen und den Hinweisen, wo die Kräuter zu finden waren, in einen Korb und machte sich auf den Weg.
Sie musste nicht lange suchen, die Hexe hatte den Ort, um ihre Hütte zu bauen, gut gewählt. Langsam füllte sich ihr Korb, die Sonne stieg und Adonia wurde warm. Zufrieden begutachtete sie ihre Beute. Noch zwei Kräuter fehlten, dann hatte sie alles, was sie brauchte.
Sie zuckte zusammen, als sie Hundegebell hörte, es war ganz nah. Ihr Herz schlug schneller. Sie waren direkt an der von ihr erzeugten Grenze. Oder hatten sie diese schon überschritten?
Sie eilte zu der Linie, die sie mit den gemahlenen Kräutern gezogen hatte. Ein Hund stand direkt davor und schnüffelte. Adonias Atem beschleunigte sich. Panik kroch in ihr hoch. Wirkte das Abwehrmittel nicht? Ihr hatten doch die Augen getränt, als sie daran gerochen hatte. Wieso machten sie dem Hund nichts aus? Der schnüffelte unbeirrt weiter und kam langsam näher.

Erste Lektion und erster Zauber

 

Adonia überlegte fieberhaft. War die Mischung vielleicht schon zu alt gewesen? Sie breitete ihr Schultertuch aus und schlug das Kräuterbuch auf. Die Hexe hatte sich den Spruch hier notiert. Adonia konzentrierte sich, nahm das Kräuterbündel und legte die Kräuter einzeln nebeneinander. Sie musste sie in einer bestimmten Reihenfolge zerreiben und dabei immer wieder die Worte. ‚Bis hier und nicht weiter‘ sprechen. Es kam ihr albern vor, aber sie musste dem Zauber vertrauen.
Sie nahm die erste getrocknete Pflanze in die Hand und fing an zu reiben. Während sie dazu die Worte sprach, stellte sie sich vor, wie sich der Hund jaulend zurückzog. Ihre Hände wurden erst warm, dann heiß. Sie fühlte, wie etwas mit ihr passierte, wie etwas aus ihr in die zerkrümelten Kräuter floss.
Ermutigt arbeitete sie weiter. Nach kurzer Zeit hatte sie die Mischung fertig. Ihr tränten schon die Augen, ohne dass sie daran riechen musste. Vorsichtig füllte sie die Mischung in eines der Ledersäckchen, die sie für lose Blätter mitgenommen hatte. Sie näherte sich leise dem Hund, der bellend auf seinen Herren wartete. Sie hörte Stimmen, die sich näher kamen. Sie durfte keine Zeit verlieren. Sie nahm etwas von den Kräutern und warf sie vor dem Hund in die Luft. Der jaulte überrascht auf, nieste, zog den Schwanz ein und wich zurück. Vorsichtig senkte er die Nase zum Boden, kam wieder näher, blieb aber nach zwei Schritten wie angewurzelt stehen, winselte, drehte sich um und lief bellend zurück in den Wald.
Adonia kam ein Gedanke. Entwickelten die Kräuter, Pulver und Tränke nur dann ihr volles Potential, wenn sie diese selbst hergestellt hatte? War durch den Tod der Hexe die Magie daraus verschwunden? Sie fühlte eine befriedigende Bestätigung bei dieser Erkenntnis. Einen Moment stand sie ruhig da, doch ihre Gedanken rasten. Sie hatte viel mehr zu tun als gedacht, wenn sie alles neu herstellen und ganz von vorne anfangen musste. Rasch verstreute sie die Kräuter, soweit sie reichten, und eilte zurück zur Hütte.

Die Kunst des Zauberns

 

In ihrer Hütte angekommen, nahm Adonia die restlichen Kräuterbündel für die Abwehrmischung von der Decke. Sie besah sich die zwei Pflanzen, die ihr noch fehlten, sehr genau, verglich sie mit den Zeichnungen und nickte zufrieden. Sie waren nicht schwer zu erkennen, das schaffte sie. Dann machte sie sich an die Arbeit.
Beflügelt von dem Erfolg ihres ersten Versuches legte sie ihre ganze Vorstellungskraft in den Zauber. Zum Schluss füllte sie alles in den großen Mörser, um es so fein zu reiben, wie das Pulver der Hexe gewesen war. Als sie fertig war, füllte sie es den Topf, den sie zuvor geleert hatte und einen Teil in den Beutel. Sie schwitze und konnte nur mit Mühe den Wunsch unterdrücken, alles fallen zu lassen und aus der Hütte zu rennen. Vielleicht sollte sie das nächste Mal zur Herstellung nach draußen unter das Vordach gehen. Sie spürte die Erheiterung der Substanz in ihr, als sie zu dieser Erkenntnis erlangte, und ließ ernüchtert die Schultern hängen. Sie hatte noch viel zu lernen.
Sie riss alle Fenster und die Tür auf, damit der feine Kräuterstaub verflog. Sie erneuerte ihre Abwehrlinie und kam keinen Moment zu spät. Die Suchmannschaft aus dem Dorf hatte das Ende des Abschnittes erreicht und wieder waren die Hunde gefährlich nahegekommen. Adonia beobachtete zufrieden, wie sie an der frisch nachgezogenen Linie stoppten und sich zurückzogen. 

Vorstellungskraft und Wirklichkeitszauber

 

Nervös nahm Adonia eine großzügige Prise des Wirklichkeitspulvers. Dies war ihr zehnter Versuch. Der letzte war schon nicht schlecht gewesen, aber noch nicht überzeugend genug. Sie hatte an diesem Zauber den ganzen Winter über gearbeitet, da das Pulver immer nur zu bestimmten Zeiten hergestellt werden konnte. Ihre Kräutervorräte gingen zur Neige und wenn dieser Versuch nicht klappte, würde sie den ganzen Sommer warten müssen, bis sie alle passenden Kräuter gefunden und getrocknet hatte.
Sie holte tief Luft, schloss die Augen, stellte sich vor, wie sie als alte Frau aussehen würde, und warf das Pulver über sich. „Graue Haare, faltige Haut, trübe Augen, gebeugter Rücken!“ Sie spürte das Prickeln auf ihrer Haut, kniff die Augen noch fester zusammen und konzentrierte sich auf das Bild in ihrem Kopf. Als das Prickeln verebbte, öffnete sie langsam die Augen. Verblüfft starrte sie ihr Spiegelbild an und drehte sich langsam von einer Seite zur anderen. Ihre Augen waren von einer milchigen Schicht überzogen, ihre Haare grau und struppig, die Haut hing schlaff herunter und war von tiefen Furchen durchzogen. Sie sah so alt aus, als ob sie jeden Moment tot umfallen müsste. Sie war definitiv nicht mehr zu erkennen.
Jubelnd riss Adonia die Arme in die Höhe. Sie hatte es geschafft. Sie hatte diesen schwierigen Zauber gemeistert. Er würde ihr eine neue Welt öffnen. Endlich konnte sie sich unerkannt in der Grafschaft bewegen. Falls sie auffiel, würde man immer nach den falschen Personen suchen.
Sie nickte ihrem Spiegelbild zufrieden zu. Die Vorstellungskraft war der Schlüssel zu allen Zaubern. Sie spürte die Bestätigung in ihr und schüttelte dann ärgerlich den Kopf. Es wäre hilfreich gewesen, wenn das deutlich im Zauberbuch gestanden hätte. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. Aber vielleicht war Aaron Darende der Gedanke nicht gekommen? Sie zuckte mit den Schultern. Oder es musste jeder für sich herausfinden. Sie grinste frech in den Spiegel. Es war egal. Nun konnte sie ihre Hütte verlassen und endlich ihre Tränke und Pulver, die sie über den Winter hinweg hergestellt hatte, ausprobieren. Sie lachte laut. Den Liebestrank wollte sie zuerst testen. Das würde ein Spaß werden.

Menschen sind überall gleich.

 

Adonia suchte sich einen unauffälligen Umhang aus dem Kleiderschrank, packte die Flasche mit dem Liebestrank in den Korb, versteckte sie unter etwas Gemüse und machte sich auf den Weg. Sie wollte heute den Liebestrank an einem Menschen ausprobieren. Aus Mangel an Testobjekten hatte sie einem Reh einen Schluck eingeflößt. Es war ihr zwei Wochen lang auf Schritt und Tritt gefolgt und hatte um Streicheleinheiten gebettelt.
Sie hatte keinen Plan, wie sie den Liebestrank verabreichen wollte. Im Buch stand, dass man ihn mit Wein oder ähnlich stark schmeckenden Getränken mischen sollte, damit er nicht auffiel, und man sollte auf die Dosierung achten. Große Menschen brauchten mehr als kleine, Männer mehr als Frauen, auch hing es davon ab, was man erreichen wollte. Tiefe Verliebtheit und Anbetung oder nur Zuneigung und Gewogensein.
 Adonia hatte lange überlegt, in welchem der Dörfer sie den Trank am besten ausprobieren konnte. Sie hatte sich für Loverna entschieden, einem der größeren Dörfer der Grafschaft, schon fast eine Stadt zu nennen. Sie war dort noch nie gewesen und sich sicher, dass man sich nicht an sie erinnern würde, falls es merkwürdige Reaktionen auf den Liebestrank geben sollte.

In Loverna herrschte schon geschäftiges Treiben, als Adonia ankam. Sie zog den Umhang fester um sich und zog das Kopftuch etwas tiefer ins Gesicht. Ob das ungute Gefühl, wenn sie auf andere Menschen traf, jemals verschwinden würde?
Heute war Markttag und sie steuerte auf den zentralen Platz zu. Dort würde sie auch die Schenken und Gasthäuser finden. Sie kaufte ein wenig Gemüse und Obst, das nicht in ihrem kleinen Garten wuchs, und frisches Brot. Auf dem Markt herrschte noch Gedränge, doch bald würde er schließen. Die vielen Geräusche um sie herum kamen ihr nach der Stille des Waldes unnatürlich laut vor. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht einfach umzukehren, zur Hütte zurückzugehen und ihren Plan zu vergessen.
Sie schaute sich genauer um und sah fröhliche Gesichter. Diese gehörten meist zu gut gekleideten und wohlgenährten Menschen. Ja, ihnen ging es gut, sie hatten genug Geld und keine Sorgen. Doch wie waren sie an ihren Reichtum gekommen? Durch ehrliche Arbeit oder auf Kosten anderer, denen es nicht so gut ging?
Sie bemerkte auch die Menschen, die müde und traurig aussahen, ärmlich gekleidet waren und wie andere mit ihnen umgingen. Dies bestätigte ihre Erfahrungen. Diejenigen, denen es gut ging, dachten nicht daran, denen, die weniger Glück hatten als sie, die Hand zu reichen, ihnen ihr Schicksal zu erleichtern. Sie dachten nur an sich und ihren eigenen Vorteil.
 Sie sah zwei junge gutgekleidete Männer, die eine Bauersfrau belästigten, die leere Kisten auf den Karren hinter den Stand lud. Anstatt ihr zu helfen, versuchten sie, ihr an den Hintern zu packen, und ließen erst von ihr ab, als ihr Standnachbar eingriff. Dieser hatte kurz zuvor eine in Lumpen gekleidete Frau verscheucht. Sie hatte in dem Haufen hinter seinem Stand, auf den er einiges von seinem Gemüse aussortiert hatte, nach Essbarem gesucht. Er würde es nach dem Markt ohnehin zurücklassen, warum hatte er ihr es nicht gegönnt?
Die beiden Männer lachten herablassend über die Empörung der Bauersfrau, versuchten ein letztes Mal, sie zu begrabschen, ließen sie dann aber in Ruhe, als ihr Geschrei immer mehr Leute anlockte. Sie drängten sich an Adonia vorbei und schlugen ihr fast den Korb aus den Händen. Adonia folgte ihnen und sah sie in eine der Schenken einkehren. Sie traten nach dem Bettelmädchen, das davor saß. Bevor Adonia die Schenke erreichte, kam der Wirt heraus und vertrieb das Mädchen mit einem Besen.
Langsam wurde Adonia wütend. Die Menschen waren wirklich überall gleich, wieso konnten sie kein Mitleid mit denen haben, denen es nicht so gut ging? Entschlossen ging sie in die Schenke. Die zwei Burschen saßen bei einigen anderen jungen Leuten am Tisch und unterhielten sich lautstark. Adonia setzte sich an den Tresen und orderte ein Bier.
„Na Mütterchen? Müde von dem langen Weg?“ Der Wirt setzte ihr einen Krug vor und Adonia zählte die Münzen ab. „Wenn ich es langsam angehe, dann geht es. Der Staub des Weges trocknet die Kehle aus.“ Sogar ihre Stimme klang alt und brüchig. Adonia verkniff sich ein stolzes Lächeln und trank einen Schluck. 

Die Tücken des Liebestranks

 

Bis auf die zwei jungen Männer, die ihr schon auf dem Markt aufgefallen waren, verließ die Gruppe junger Leute die Schenke. Die beiden setzten sich zu Adonia an den Tresen und orderten Wein. Sie machten sich breit und drängelten sie zur Seite, als der Wirt den Krug vor ihnen abstellte. Sie schenkten sich ein und wurden dann abgelenkt, als eine Schar Bauersfrauen hereinkam. Adonia nutzte die Chance und gab einen großzügigen Schuss Liebestrank in das Glas des Rüpels neben ihr. Der trank seinen Wein, nachdem er seine anzüglichen Bemerkungen in Richtung der Frauen losgeworden war. Zu allem Überfluss machte er noch eine gehässige Bemerkung in Adonias Richtung.
Seine Augen wurden glasig, als er das Glas absetzte. Er schenkte sich nach, schaute wieder nach Adonia und lächelte sie strahlend an. „Na, meine Schöne? Wo kommst du auf einmal her? Wie wär es mit uns beiden?“ Er rückte näher, legte eine Hand auf ihren Arm und schaute ihr tief in die Augen. Sein Freund neben ihm starrte ihn ungläubig an und stieß ihn dann an.
„Was ist? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“, fuhr der junge Mann seinen Freund an und wandte sich wieder Adonia zu. Es war still im Schankraum geworden und alle starrten zu ihnen herüber. Adonia lächelte ihm zu, was er als Aufforderung ansah. Er legte einen Arm um sie und versuchte, sie zu küssen. Sie wich zurück, fiel beinahe von ihrem Hocker, hätte der Wirt nicht zugegriffen.
Der nahm dem jungen Mann das Glas weg, sagte zu seinem Freund, dass sie besser verschwänden, und er nicht trinken sollte, wenn er nichts vertrug. Der Kerl wollte nicht gehen, und es waren drei Männer nötig, um ihn von Adonia wegzuschleifen. Sie warfen ihn in die Pferdetränke vor der Schenke. Immer noch rief er nach ihr.
Adonia wusste nicht, ob sie jetzt lachen oder verlegen sein sollte. Der Wirt entschuldigte sich unentwegt bei ihr und schließlich brachte sie ihn zum Schweigen, indem sie ihren Krug leerte und sich erhob. Als sie aus der Schenke trat, lag der Kerl immer noch im Wasser und streckte die Arme nach ihr aus. 
Leise vor sich hin kichernd machte sie sich auf dem Heimweg. Der Trank wirkte hervorragend, aber an der Dosierung musste sie noch tüfteln.
Ein Gedanke schoss durch ihren Kopf und ein breites Lächeln trat auf ihre Lippen. Der Trank würde ihr noch gute Dienste leisten.

Fehlschlag

 

Prüfend rückte Adonia ihre Kappe zurecht. Sie hatte heute zum ersten Mal die Gestalt einer realen in Albach lebenden Person angenommen. Mal als alte Frau oder als Durchreisender getarnt, hatte sie das Schankmädchen aus der Schenke beobachtet. Sie hatte sich nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihre Stimme, wie sie sich bewegte, was sie sagte, eingeprägt. Gestern Abend war sie bis zur Sperrstunde geblieben, als Reisender aus dem Süden getarnt, der im Gasthaus übernachtete, zu dem die Schenke gehörte. Dem Schankmädchen hatte sie ein starkes Schlafmittel verabreicht, als sie einen letzten Wein zusammen tranken. Nun lag sie in ihrer Kammer unter dem Dach des Gasthauses und würde bis zum Nachmittag schlafen.
Adonia wollte sich endlich Wanko Jalapa, den Wundarzt, holen und ihn für seine Taten bestrafen. Immer wieder hatte er sie unsittlich berührt. In seiner Gier nach ihr hatte er ihrer Mutter die Hilfe verweigert und sie sterben lassen.
Heute war sie in aller Frühe abgereist, zu ihrer Hütte geeilt und musste nun rasch zurückkehren, bevor der Wirt nach seinem Schankmädchen suchte.
Sie hörte ihn schon nach ihr rufen, als sie die Schenke durch den Hintereingang betrat.
Er bemerkte sie, packte sie am Arm und schob sie grob in die Küche. „Wo bist du gewesen? Ich bezahle dich nicht fürs Faulenzen und Herumtreiben! Das war das letzte Mal. Nächstes Mal setze ich dich vor die Tür, dann kannst du auf der Straße leben, du undankbares Miststück! Und jetzt hilf dem Koch, damit die Gäste etwas zu essen bekommen.“
Sie duckte sich unter seiner Hand hinweg, als er ausholte, um sie zu schlagen. Sie schnappte sich ein Messer und fing an, Kartoffeln zu schälen. Sie wusste, dass er dies dem Mädchen ständig drohte, wann immer sie nicht tat, was er wollte.
Wanko Jalapa kam immer um die Mittagszeit, um etwas zu essen und ein Bier zu trinken. Auch heute enttäuschte er Adonia nicht. Sie schüttete den Gefügigkeitstrank in den Krug und wich seiner Hand aus, als er nach ihr fasste. Er lachte und trank den Krug in einem Zug leer. Wieder griff er nach ihr, als sie den Teller brachte, und  zog sie auf seinen Schoß.
„Lass mich los!“
Er machte ein verblüfftes Gesicht und ließ von ihr ab. Seine Augen wurden glasig, sein Gesicht entspannte sich, der Mund stand offen. Adonia sah ihn besorgt an. Hatte sie den Trank richtig hergestellt? Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihn zu testen. Wenn sie etwas falsch gemacht hatte, dann würde entweder gar nichts passieren oder sie würde ihn schlichtweg vergiften. Das wollte sie nicht, er sollte ihr auf ihren Befehl hin zu ihrer Hütte folgen und in ihre Truhe sehen.
 Der Wundarzt fasste sich an den Bauch. „Mensch Farian, dein Bier ist verdorben. Mir ist schon ganz übel!“ Er beugte sich vor und Adonia konnte noch rechtzeitig zurückspringen, bevor er sich geräuschvoll übergab. Der Wirt scheuchte sie nach Lappen und Eimer, während er beruhigend auf den Wundarzt einredete. Adonia fluchte leise. Das hatte nicht geklappt. Sie musste von vorne anfangen.

Gelungener Gefügigkeitstrank

 

„Und nun schau in die Truhe, dann zeige ich dir, was ich unter meinem Kleid habe!“
Der Wundarzt grinste sabbernd und öffnete die Truhe. Erschöpft und erleichtert sah Adonia zu, wie er von dem Stein in der Truhe absorbiert wurde. Dies war der fünfte Versuch gewesen. Bei dem ersten Versuch, hatte sie eine Zeile im Rezept übersehen. Ein Wunder, dass der Trank wie gelungen ausgesehen und gerochen und der Wundarzt ihn überlebt hatte. Dann waren die Kräuter nicht fein genug gerieben gewesen und der Trank hatte nur geringe Wirkung gezeigt – dies hatte dem Wundarzt beim ersten Versuch wahrscheinlich auch das Leben gerettet. Dann hatte sie erst zu wenig dosiert, und als sie es nachdosierte, zu viel in sein Bier gegeben. Der Wundarzt hatte Krämpfe bekommen und war in Ohnmacht gefallen. Aber heute war alles perfekt gelaufen.
Jedes Mal, wenn sie in die Rolle des Schankmädchens geschlüpft war, hatte der Wirt sie drangsaliert. Er war einfach nur widerlich. Bei den Gästen biederte er sich an und an seinen Angestellten ließ er seine schlechte Laune aus, vor allem an denen, die von ihm abhängig waren. Ihn würde sie sich als Nächstes holen.
Es war jetzt auch höchste Zeit gewesen, dass sie den Stein fütterte, denn langsam hatte sich ein leichtes Hungergefühl eingestellt. Fast ein Jahr hatte sie von der Lebenskraft des Krämers und des kleinen Mädchens gezehrt. Sie hatte viel Energie verbraucht bei ihren Versuchen, die Tränke herzustellen. Jedes Mal war etwas von ihrer Kraft bei der Herstellung in den Trank geflossen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie oft sie etwas weggeschüttet hatte, weil es nicht so aussah oder roch, wie es sollte. Doch allmählich hatte sie den Dreh raus.
Der Gehorsamkeitstrank war knifflig gewesen, viel schwerer als der Liebestrank. Aber er war unabdinglich für ihren Plan, sich am Grafen und an den Menschen in seiner Grafschaft zu rächen. Noch war der Plan vage, ihr fehlten noch einige Dinge, doch sie arbeitete verbissen daran. Und nun, da sie den Gefügigkeitstrank gemeistert hatte, konnte sie sich dem Wahrheitstrank zuwenden.

Benimmregeln des Adels

 

Vornehm trippelte Adonia eine der größeren Straßen von Loverna entlang. Diesen Gang hatte sie lange geübt. Sie hatte sich ihn von den feinen Damen, Frauen von reichen Kaufleuten und ihren älteren Töchtern, die am Flussufer entlangflanierten, abgeschaut. Selbst die Dienstmädchen dieser Damen taten so, als ob sie etwas Besseres wären als die allgemeine Bevölkerung.
Nun imitierte Adonia eines dieser Dienstmädchen im Auftrag ihrer Herrin. Sie war auf dem Weg zum Buchladen in der Rathausstraße. Sie war wie immer auf der Suche nach Büchern über den Adel, wollte sie doch lernen, wie sie sich als Adelige benehmen musste.
Sie betrat den Laden.
Der Buchhändler sah sie und kam ihr entgegen. „Guten Tag Aria, wieder unterwegs in geheimer Mission?“ Er lächelte sie breit an.
Adonia hatte jedes Mal vorgegeben, dass sie von dem Geld, das sie im letzten Monat übrig behalten hatte, einen Roman kaufen wollte. Am liebsten mochte sie Liebesromane, aber auch gerne Abenteuergeschichten oder Reiseromane. Seit der Buchhändler auch Bücher selber druckte und vervielfältigte, waren diese erschwinglich geworden.
Adonia zwinkerte ihm zu und zeigte ihm ihren Korb, in dem Perlen und Spitzen lagen. „Der offizielle Teil der Mission ist erfüllt.“
Der Buchhändler warf einen Blick hinein und schüttelte den Kopf. „Sie bekommt nie genug davon, oder? Sie sollte sich ein Beispiel an Ihnen nehmen und ihr Geld für gute Bücher ausgeben.“
Adonia seufzte und zuckte gespielt theatralisch mit den Schultern. Der Buchhändler hatte bis heute nicht gemerkt, dass sie ihm immer dieselben Perlen und Spitzen zeigte.
Er führte sie zu dem Regal, in dem er die Neuheiten präsentierte, dann wandte er sich einem Kunden zu, der gerade den Laden betrat. Adonia sah die Bücher kurz durch. Heute war eine Liebesgeschichte dabei, in der eine Gräfin die Hauptrolle spielte. Adonia lächelte. Wie passend. Sie hatte auf ein weiteres Buch mit Benimmregeln gehofft. Das, was sie besaß, war schon älter und längst nicht mehr aktuell.
Sie ging zur Kasse und reichte es dem Buchhändler.
„Ah, eine gute Wahl. Sie werden nicht enttäuscht sein, meine Liebe.“ Er lächelte und zwinkerte wieder. „Sie haben doch nicht etwa geheime Ambitionen, jetzt wo die Frau des Grafen so schwer erkrankt ist.“
Adonia fühlte sich ertappt und errötete.
„Oh meine Liebe, das war ein Scherz, ich wollte Sie nicht beschämen. Aber vielleicht habe ich da noch etwas, das für Sie von Interesse sein könnte.“ Er verschwand kurz in den Regalreihen und kam mit einem frisch gedruckten Buch zurück. „Hier, es ist vorhin erst fertig geworden. Ich hatte es noch nicht in das Regal mit den Neuheiten gestellt.“ Er gab es ihr. Es war eine aktualisierte Ausgabe der Benimmregeln für die höhere Gesellschaft. Der Buchhändler lächelte breit. „Ich würde Ihnen, als Stammkundin, einen Sonderpreis machen. Vielleicht ist es ja von Nutzen.“
Adonia runzelte die Stirn, zählte die Münzen und tat so, als ob sie überlegen musste, ob sie es sich leisten konnte, und nickte dann. „Sie haben recht. Man kann nie wissen.“
Der Händler lächelte und sammelte zufrieden die Münzen ein.
Gut gelaunt verließ Adonia den Buchladen. Ihre Gedanken wanderten zum Grafen. Der Buchhändler hatte mit seinem Scherz nicht danebengelegen. Die nächste Frau des Grafen zu werden, war ihr Plan. Auch wenn sie noch immer keine Ahnung hatte, wie sie das bewerkstelligen sollte. Sie hatte ihn oft beobachtet, wenn er auf der Jagd war, oder ausritt. Er tat dies mittlerweile allein, da seine Frau schwer erkrankt war. Dies hatte sie dem Klatsch in den Cafés am Flussufer vernommen, die sie regelmäßig besuchte.

Interessante Neuigkeiten

 

Sie betrat das Café zur Weintraube, das zum gleichnamigen Gasthof gehörte, eilte in das stille Örtchen, zog die Schürze aus und wandelte sich mit einer Prise Wirklichkeitspulver in eine der reichen Töchter. Zurück im Café erspähte sie einen Tisch, an dem zwei junge gutgekleidete Frauen saßen. Die anderen Tische waren besetzt, sodass sie nickten, als Adonia fragte, ob sie sich zu ihnen setzen konnte.
Sie beachteten sie zunächst nicht. Adonia bestellte sich einen Tee und ein Stück Kuchen und erregte dann ihre Aufmerksamkeit, als sie sich etwas aus einem kleinen Flakon in den Tee gab. In dem Flakon war der Wahrheitstrank. Sie selbst konnte ihre Tränke einnehmen, ohne dass es eine Wirkung auf sie hatte. Ein großer Vorteil. 
Auf die Nachfrage hin erzählte sie, dass dieses Mittel die Haut besonders rein mache und alle Sommersprossen entferne, sie könne es nur empfehlen. Sie bot den jungen Frauen etwas an und natürlich wollten sie es ausprobieren. Es funktionierte jedes Mal. Adonia gab ihnen je einen Schluck des Wahrheitstrankes in die Tassen, dessen Zubereitung sie mittlerweile gut beherrschte.
Sie wartete ein Moment und als die jungen Frauen sich entspannten, ihre Pupillen sich weiteten, fragte sie, ob sie etwas Neues vom Grafen wüssten, oder andere interessante Neuigkeiten.
Eine beugte sich zu ihr herüber und senkte die Stimme.
„Die Frau des Grafen ist gestorben. Letztendlich ist sie ihrer Krankheit erlegen. Meine Mutter hat es von der Empfangsdame des Arztes erfahren. Der Graf ist noch nicht so alt. Sicher wird er sich bald, wenn die angemessene Trauerzeit verstrichen ist, eine neue Frau suchen.“ Sie zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch und dann kicherten die beiden.
Adonia beugte sich zu ihnen. „Wollt Ihr versuchen, sein Interesse zu wecken? Wie werdet Ihr das machen?“
Die andere seufzte missmutig. „Das dürfte nicht so einfach werden. Seine Tochter hat geheiratet und lebt nicht mehr auf dem Schloss. Es gibt keinen Bedarf an Zofen. Ich weiß gar nicht, ob überhaupt noch eine der Zofen der verstorbenen Gräfin auf dem Schloss weilt.“ Sie zuckte mit den Schultern und sah die andere fragend an.
„Er wird sicher weiterhin Feste geben, sein Sohn ist noch nicht verheiratet. Dann ist da die Jagd in einigen Monaten. Er lädt hin und wieder auch die Oberschicht aus Loverna und Waterford ein. Meine Familie war schon auf mehreren seiner Feste.“ Sie richtete sich auf und streckte stolz ihre Brust vor, während die andere sie neidisch anstarrte.
Adonias Gedanken rasten. Der Graf war Witwer, die angemessene Trauerzeit betrug einige Monate. Gut möglich, dass er auf der Jagd Ausschau nach einer neuen Braut halten würde. Sie musste es schaffen, seine Aufmerksamkeit zu wecken, und ihm den Liebestrank verabreichen. Dann würde er alles tun, was sie verlangte. Wie sollte sie dies nur anstellen?

Die Gelegenheit

 

Einige Wochen später saß Adonia wieder in einer Schenke, als Reisender getarnt. Die Zeit der Jagd rückte näher. Noch hatte der Graf sich keine neue Frau gesucht, doch es würde nicht mehr lange dauern. Im Klatsch hatte sie aufgeschnappt, dass er nicht allzu traurig war und sich bereits umschaute. Adonia befürchtete, dass sie diese Chance vertun würde. Als Gräfin würde sie ganz andere Macht haben. Sie träumte davon, welche Türen ihr dann offen ständen. Sie hatte fleißig weiter Benimmregeln gepaukt, das Essen mit Besteck geübt, wie man was aß, wann man sich wie kleidete, Konversation, Handarbeiten. Sie glaubte, dass sie damit durchkam, zumindest die reichen Töchter, die sie in den Cafés am Flussufer in Loverna aushorchte, hatten nichts zu bemängeln.
Sie hatte sich gerade etwas zu essen bestellt, als ein Mann und eine Frau die Schenke betraten und am Tisch neben ihr Platz nahmen. Sie sahen wie Bedienstete aus, doch wo war ihr Herr?
Sie bestellten sich ebenfalls etwas zu essen und zu trinken.
„Wie lange werden wir noch unterwegs sein?“ Die Frau sah missmutig drein. „Ich bin jetzt schon ganz durchgeschüttelt!“
Der Mann warf ihr einen mürrischen Blick zu, wahrscheinlich beschwerte sie sich schon die ganze Zeit. „Morgen werden wir in Skala ankommen, wenn nichts dazwischen kommt. Der Graf liebt Dame Adonia sehr, auch wenn sie nicht seine leibliche Tochter ist. Sie erinnert ihn an seine geliebte Frau. Möge ihre Seele in Frieden ruhen. Heute Abend machen wir Rast in Volos. Sei froh, dass unser Herr nicht von uns erwartet, dass wir unter der Kutsche schlafen.“ Er warf ihr noch einen strengen Blick zu und nahm dann das Bier und den Teller entgegen. Sie aßen schweigend. Adonia warf ihnen prüfende Blicke zu. Die Frau war wie ein Kammermädchen aus der höheren Gesellschaft gekleidet. Der Mann könnte ein Kutscher sein. Sie stand auf, ging kurz vor die Tür und begutachtete die Kutsche, die vor der Schenke stand. Um das Pferd kümmerte sich einer der Stallburschen, der für das Gasthaus arbeitete, zu dem die Schenke gehörte.
Adonias Gedanken rasten. Das könnte interessant werden. Eine Frau, die denselben Namen trug wie sie und das Mündel eines Grafen war? Wenn sich daraus nichts machen ließe. Adonias Herz pochte heftig. War das die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte?

Eine Braut für den Grafen zu Dörenberg

 

Adonia setzte sich zu dem Kutscher und dem Kammermädchen, als diese ihr Mahl fast beendet hatten. Der Wirt brachte noch eine Runde Bier, die Adonia vorher geordert hatte.
„Verzeiht, darf ich mich zu euch setzen? Ich konnte nicht umhin eure Worte zu hören. Ihr wollt nach Skala? Ich habe schon so viel davon gehört. Ich will es unbedingt selbst besuchen. Sagt mir, lohnt es sich?“
Der Mann schaute sie ablehnend an und einen Moment lang dachte Adonia, der Wirklichkeitszauber ließe nach, obwohl ihre Stimme immer noch angenehm tief in ihren Ohren geklungen hatte.
Doch die Frau klimperte ihr aufreizend mit den Augen zu. Adonia sah wohl immer noch wie ein gepflegter reicher Händler aus. „Aber natürlich, mein Herr“, meinte das Kammermädchen. „Gegen angenehme Gesellschaft habe ich nie etwas.“ Sie lächelte breit, der Mann grunzte mürrisch, nahm aber einen Schluck von dem Bier. Adonia nutzte die Ablenkung, als einige laut diskutierende Männer den Raum betraten, und gab je einen Schluck Wahrheitstrank in die Krüge ihrer Tischgenossen.
Erst ließ sie sich etwas von Skala erzählen. Der Mann war schon einmal dort gewesen. Er hatte Dame Adonia Calenda in den Sommerpalast von Herzog Rossano von Uras gebracht. Dieser betrieb dort ein Sanatorium für alle, die es sich leisten konnten. Es lag direkt am Meer und die frische, salzige Luft tat vor allem bei Lungenleiden sehr gut. Viele kamen dorthin, um sich nach überstandener Krankheit zu erholen oder bei schwacher Gesundheit Kraft zu schöpfen.
Die zwei hatten mittlerweile ihre Krüge fast geleert und Adonia fragte sie nach Adonia Calenda aus.
Das Kammermädchen kicherte, meinte dann, dass sie die Dame noch nicht getroffen habe, da sie erst nach ihrer Abreise bei Graf Seda von Rovigo ihren Dienst angetreten hatte. Sie habe nur gehört, dass das arme Mädchen schon immer von schwacher Gesundheit gewesen war. Sie war die Tochter der ersten Frau des Grafen gewesen, die er sehr geliebt hatte. Er hatte ihr auf dem Sterbebett versprochen, sich um das Mädchen zu kümmern, als sei sie seine eigene Tochter.
Adonia rückte näher heran. „Wieso hat der Graf überhaupt eine Frau geheiratet, die schon ein Kind hatte, ist das nicht ungewöhnlich?“
Auch die anderen zwei rückten näher heran.
„Sie war Witwe, das Mädchen stammte aus erster Ehe. Der Mann war in einem der Kriege des Königs gefallen.“ Der Kutscher runzelte nachdenklich die Stirn. „Sie war nicht ganz standesgemäß, aber zumindest ehrenhaft.“
„Und sie ist nicht mit dem Grafen verwandt?“
„Nicht mal um drei Ecken.“ Das Kammermädchen kicherte wieder. „Er hat sie aufpäppeln lassen, damit er sie gut verheiraten kann. Sie müsste jetzt gut vierzehn Jahre alt sein und wird eine großzügige Mitgift bekommen, habe ich gehört.“
Der Kutscher nickt zustimmend. „Sie hat großes Glück, woanders werden Waisen nicht so großzügig behandelt.“
Adonia schluckte. Wie recht er doch hatte. „Wie sieht sie aus?“
Der Kutscher grinste breit. „Sie hätte auch ohne Mitgift keine Probleme, einen Mann zu finden. Ein hübsches kleines Ding ist sie. Blonde lange Haare, blaue Augen. Als ich sie vor knapp zwei Jahren weggebracht habe, deuteten sich schon erste Rundungen an.“ Er nickte anerkennend. „Sie dürfte sich zu einer schönen Frau entwickeln.“
Adonia hielt den Atem an. Das hörte sich zu gut an, um wahr zu sein. Ein Mündel eines Grafen, das verheiratet werden sollte, ihr ähnlich sah und sogar ihren Namen trug. Sie konnte es kaum glauben. Das musste ein Geschenk des Himmels sein. Sie durfte diese Chance nicht vermasseln.
„Wann kommt ihr zurück und welchen Weg nehmt ihr?“
Der Kutscher wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Wir werden dort ein bis zwei Tage bleiben, bis sie reisefertig ist und dann geht es den gleichen Weg zurück. Bei Waterford nehmen wir die Fähre über den Fluss und dann geht es weiter nach Norden nach Rovigo.“
Die beiden brachen auf und Adonia bedankte sich höflich für das Gespräch. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. In ein paar Tagen würden sie zurückkommen. Sie hatte einen Blick auf die Kutsche geworfen und würde sie wiedererkennen, sie durfte sie nicht verpassen. Ein hübsches Mädchen mit üppiger Mitgift, das würde sich der Graf nicht entgehen lassen. Sie brauchte nur eine Gelegenheit, um ihm den Liebestrank einzuflößen, und dann gehörte er und die Grafschaft Dörenberg ihr.

Der Überfall

 

Adonia hockte den dritten Tag auf einem Ast eines Baumes, der über die Straße von Loverna nach Waterford ragte. Sie wurde immer unruhiger. Hatte sie die Kutsche verpasst? Hatten sie vielleicht doch einen anderen Weg genommen und die Tanau bereits überquert? Adonia hatte sich nur nachts einige Stunden Schlaf gegönnt und war dann wieder auf den Ast geklettert. Nicht, dass sie die Nächte durchgefahren waren. Adonia schüttelte den Kopf. Nein, der Kutscher brauchte seinen Schlaf, er würde nicht tagelang die Zügel halten können, ohne zu rasten. Sicher machten sie abends Halt in einem Gasthof.
 Sie nagte an einem Stück Wurst. Richtigen Hunger hatte sie vor Aufregung nicht. Würde ihr Plan gelingen? Sie hatte vor, auf den Kutschbock zu springen, den Kutscher auszuschalten und die Kutsche anzuhalten. Sie hatte dafür den altbewährten Gehstock dabei.
Die Stunden zogen sich hin. Es ging langsam auf Mittag zu. Adonia befürchtete schon, dass sie auch dieses Mal nicht vorbeikommen würde. Morgen sollte die Jagd stattfinden. Wenn sie heute keinen Erfolg hatte, dann wäre es zu spät.
 Sie hörte das Rattern der Räder und das Stampfen der Hufe, bevor sie die Kutsche sah. Eine Kutsche mit vier Rädern und ein Pferd. Ihr Mund wurde trocken, ihr Puls beschleunigte sich. War es diesmal die richtige Kutsche? Das Gefährt kam in Sicht und Adonias Herz machte einen Sprung. Es war so weit.
Als die Kutsche unter ihr war, ließ sie sich fallen. Sie landete auf dem Kutschbock und zog dem erschrockenen Kutscher den Gehstock über den Schädel, bevor dieser auch nur einen Laut von sich geben konnte. Er sackte zusammen. Adonia schnappte sich die Zügel aus seiner erschlafften Hand und zog daran. Schnaubend wurde das Pferd langsamer und kam zum Stehen.
Die Tür ging auf und das Kammermädchen steckte den Kopf heraus.
„Hektor, was ist denn jetzt schon wieder?“
Adonia sprang vom Kutschbock, packte sie am Hals und setzte ihr die Flasche mit dem Gefügigkeitstrank an die Lippen. Das Kammermädchen schluckte krampfhaft, wurde ruhiger und entspannte sich. 
Adonia ließ sie los. „Setz dich wieder in die Kutsche.“
Das Kammermädchen gehorchte, Adonia kletterte ihr hinterher. Die zweite Frau, die in der Kutsche saß, sah ihr tatsächlich recht ähnlich. Ihr Haar war nicht ganz so lockig, etwas heller und das Blau ihrer Augen hatte einen anderen Ton, aber sie hätten Schwestern sein können.
 Ein kurzes Bedauern überkam Adonia, als sie in die vor Angst weit aufgerissenen Augen sah. Dieses Mädchen hatte ihr nichts getan. Sie schob die Schuldgefühle beiseite. Sie musste jetzt an sich denken, an ihre Zukunft. Sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Andere waren ihr Leben lang über sie hinweggetrampelt, es wurde Zeit, dass sie die Zügel in die Hand nahm. Sie holte eine Flasche mit einem Schlafmittel aus ihrer Tasche und hielt sie dem Mädchen hin.
„Du kannst es freiwillig trinken, oder ich werde dich zwingen.“
Das Mädchen schluckte, nahm zögernd die Flasche und entkorkte sie. „Willst du mich töten?“
Adonia sah sie nur an. Sie ließ ihre Angst nicht an sich ran, sie verschloss ihre Gefühle, sonst würde sie es sich anders überlegen. Sie hatte so lange auf diesen Moment hingearbeitet. Sie durfte jetzt nicht versagen. 
Das Mädchen trank die Flüssigkeit und schlief sofort ein.
Adonia schloss die Tür hinter sich, stieg auf den Kutschbock und lenkte die Kutsche in Richtung Albach. Sie würde sie in der Nähe ihres alten Unterschlupfes bis morgen verstecken.

 

Der Austausch

 

Adonia verbarg die Kutsche mit dem Wirklichkeitszauber. Den Kutscher weckte sie auf und flößte ihm den Gehorsamkeitstrank ein, dann legte sie sich das schlafende Mädchen über die Schulter und dirigierte die Zwei zu ihrer Hütte. Dort angekommen, ließ sie sich von dem Kammermädchen helfen, das schlafende Mädchen zu entkleiden. Das Kleid wollte sie morgen anziehen. Warum sollte sie es verschwenden? Sie schickte den Kutscher und das Kammermädchen in ihr Schlafzimmer und holte den Stein aus der Truhe und legte ihn neben das schlafende Mädchen.
Noch einmal regte sich ihr schlechtes Gewissen. Wenn sie das jetzt tat, dann gab es kein Zurück mehr. Wenn sie dieses Mädchen jetzt tötete, freiwillig, ohne vom Stein gezwungen zu werden, wäre sie dann nicht genauso schlecht, wie die Dorfbewohner?
Sie brachte die Stimme zum Schweigen. Sie tat dem Mädchen einen Gefallen. Es war immer noch kränklich und würde sich ihr wahrscheinlich nur kurzes Leben lang quälen.
Adonia wollte nicht für den Rest ihres Lebens allein in dieser Hütte leben. Das Erlernen der Zauberkunst hatte ihr noch Beschäftigung gegeben, aber was kam danach? Wenn sie einfach nur fortging, wäre sie immer noch eine einfache Frau. Als Gräfin ständen ihr viele Türen offen.
Es hatte sich in ihr der Gedanke festgesetzt, dass sie sich nicht nur an den Bewohnern von Albach rächen sollte, sondern auch am Grafen selbst. Schließlich hatte er das Unglück ihrer Mutter überhaupt erst verursacht. Ihre Hütte und ein einfaches Leben war ihr nicht mehr genug. Sie wollte mehr. Sie hatte mehr verdient.
Sie sah zu, wie der Stein das Mädchen auflöste. Ruhe überkam sie. Sie würde den Grafen bezwingen, ihre Mutter rächen und selber sehr mächtig werden. Niemand würde ihr je wieder etwas antun können. Ihr Angst würde verschwinden und mit ihr die Albträume, die sie immer noch quälten. Dieses Mädchen war das Opfer, das sie erbringen musste, damit sie ihre Freiheit erlangen konnte.

Geglückter Unfall

 

Adonia saß wartend in der Kutsche und lauschte auf die Geräusche, die ihr sagten, dass sich die Jagdgesellschaft des Grafen näherte. Sie hatten wie gehofft den Weg zu den Feldern zwischen Loverna und Albach eingeschlagen und kamen ihr gemächlich entgegen. Eine Portion Liebestrank hatte sie in der kleinen Handtasche verborgen, als eine Flasche Parfum getarnt, eine weitere befand sich im Koffer. Sie hatte auch noch etwas Wirklichkeitspulver für alle Fälle dabei, um sich unerkannt aus dem Staub machen zu können, falls etwas schief lief. Das Kammermädchen saß steif neben ihr und starrte geradeaus. Der Kutscher saß auf dem Kutschbock und wartete auf ihren Befehl. Das Pferd schnaubte unruhig.
Sobald die Jagdgesellschaft nah genug war, wollte Adonia die Kutsche vom Weg herunter auf das abschüssige unebene Gelände neben dem Weg lenken lassen, wo sie hoffentlich umkippte. Das sollte so viel Krach machen, dass die Jagdgesellschaft angelockt wurde und ihr helfen würde. Sie kaute nervös auf der Unterlippe. Es konnte sehr viel schief gehen.

„Losfahren!“, befahl sie dem Kutscher und gehorsam schwang er die Peitsche. Die Kutsche setzte sich in Bewegung.
„Schneller!“ Der Kutscher trieb das Pferd in einen Galopp. Es keuchte vor Anstrengung. Die Jagdgesellschaft hatte sie fast erreicht, nur noch eine Biegung trennte sie.
„Nach rechts lenken!“
Die Kutsche schwenkte nach rechts, das Pferd wieherte laut, als sie sich neigte und schließlich kippte. Adonia fiel auf das Kammermädchen und hörte Knochen knacken, der Kutscher wurde vom Bock geschleudert und blieb im Unterholz liegen. Die Kutsche hatte das Pferd von den Füßen gehoben und es lag nun strampelnd auf dem Körper des Kutschers. Adonia spürte warme Flüssigkeit ihr Gesicht hinunterlaufen. Sie fasste danach und sah Blut an ihren Fingern. Ihr Kopf schmerzte, sie musste sich beim Sturz die Stirn am Kutschenrahmen gestoßen haben.
Sie hörte Rufe und Hufgetrappel, das näher kam. Sie ließ den Kopf sinken und legte sich schlaff auf den leblosen Körper des Kammermädchens.
Die Türen wurden aufgerissen, jemand kletterte zu ihr in die Kutsche. Sie wurde angehoben. Hände griffen nach ihr und zogen sie aus der Kutsche. Ein Mantel wurde über sie gebreitet. Sanft strich ihr jemand über die Wange.
„Meine Dame, wacht auf. Könnt ihr mich hören?“
Langsam öffnete Adonia die Augen. „Was ist passiert?“ Ihre Stimme klang passend dünn und belegt. Sie zwang einen verwirrten Ausdruck in ihr Gesicht.
Ein Mann beugte sich über sie. Sie erkannte den Grafen. Seine Augen weiteten sich und für einen Augenblick fürchtete sie, dass er sie erkannt hatte, denn sie sah ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich. Doch er lächelte sie nur an und drückte sacht ihre Hand.
„Wisst Ihr, wer Ihr seid?“
Adonia atmete angestrengt, tat so, als ob sie nachdachte, und nach einigen Augenblicken stammelte sie: „Adonia Calenda. Ich war auf dem Weg zu meinem Ziehvater, dem Grafen Seda von Rovigo. Wo ist Carina?“
Ihre Stimme zitterte und sie versuchte, sich aufzurichten. Wieder strich der Graf ihr sanft über die Wange.
„Ich fürchte Euer Kammermädchen und der Kutscher haben den Unfall nicht überlebt. Es ist ein Wunder, dass Ihr nicht auch tot seid.“
Adonia ließ den Kopf auf das Laub sinken und schloss erleichtert die Augen, ein Lächeln konnte sie gerade noch unterdrücken. Stattdessen schaffte sie es, einige Tränen hervorzupressen. Um den Kutscher und das Kammermädchen musste sie sich nicht mehr kümmern.
„Was geschieht nun?“ Sie öffnete die Augen und sah den Grafen hilflos mit bebenden Lippen an. Er konnte kaum den Blick von ihr wenden.
„Wir bringen Euch auf mein Schloss und werden Euch pflegen, bis Ihr in der Lage seid, weiterzureisen. Ihr könnt so lange bleiben, wie Ihr wollt. Ich werde in der Zwischenzeit den Grafen Seda von Rovigo von Eurem Verbleib unterrichten.“
Adonia lächelte. „Ihr seid zu freundlich.“ Dann schloss sie wieder die Augen und tat so, als ob sie erneut ohnmächtig geworden war. Sie spürte, wie sie nach einiger Zeit in eine Kutsche gehoben wurde. Die ganze Zeit hielt der Graf ihre Hand. Sie erkannte es an seinem Parfum. Jetzt musste sie nur noch dafür sorgen, dass er sie nie wieder loslassen wollte.


 Dem Ziel nahe

 

Mit geschlossenen Augen ließ Adonia es über sich ergehen, dass man sie auszog, wusch, ihren Körper auf Verletzungen untersuchte, ihre Wunde am Kopf säuberte und verband und sie in ein weiches Bett legte. Sie schaffte es, die ganze Zeit ihren Körper schlaff zu halten. Als schließlich wieder nach ihrer Hand gegriffen wurde und sie das Parfum des Grafen wahrnahm, öffnete sie die Augen.
Er lächelte sie an. „Nun seid Ihr in Sicherheit. Es ist ein Wunder, dass Ihr bis auf die Wunde an eurem Kopf unverletzt seid.“ Sein Lächeln wurde breiter und Adonia frohlockte innerlich. Er war jetzt schon von ihr betört, es brauchte nicht mehr viel.
„Ich fühle mich auch schon viel besser.“ Adonia richtete sich auf und sorgte unauffällig dafür, dass ihr das Nachthemd ein wenig über die Schultern rutschte. Der Graf leckte sich über die Lippen, seine Wangen röteten sich etwas, doch er wandte den Blick nicht ab. „Wie kann ich Euch Eure Güte je vergelten?“ Adonia riss die Augen auf, zwang ein paar Tränen hinein und legte ihre Hand auf die des Grafen.
Er räusperte sich. „Wenn es Euch schon besser geht, dann wäre es mir eine Ehre, wenn Ihr mir auf dem Fest heute Abend Gesellschaft leisten würdet. Nur für kurze Zeit.“
Adonia ließ sich zurück auf das Kissen sinken und nickte. „Das werde ich tun. Bis dahin ruhe ich mich aus.“
Der Graf führte ihre Hand zu seinen Lippen. „Ich werde Euch eine Zofe schicken, die über Euch wacht. Wir haben auch Euer Gepäck geborgen. Ich werde es in Euer Zimmer bringen lassen. Und nun lasse ich Euch allein. Wir sehen uns heute Abend.“ Erneut küsste er ihre Hand und verließ dann den Raum.
Adonia hätte jubeln können. Das lief besser als geplant. Der Graf war jetzt schon in sie vernarrt, es würde niemanden wundern, wenn er ihr ganz hörig sein und alles tun würde, was sie wollte.

Fest mit Hindernissen

 

Am Abend ließ sie sich von der ihr zugewiesenen Zofe einkleiden. Es war sehr ungewohnt und sie stand steif wie ein Stock da, als die Zofe ihr das Unterkleid anlegte und das Kleid überstreifte.
Adonia musste schlucken, als diese mitfühlend meinte:
„Wollt ihr wirklich auf das Fest gehen? Euch muss doch alles weh tun. Es würde jeder verstehen, wenn Ihr noch im Bett bleibt.“
Adonia drückte den Rücken durch. Ganz unrecht hatte die junge Frau nicht. Sie fühlte sich zerschlagen. Sie hatte nicht daran gedacht, einen ihrer Heiltränke einzupacken. Ihre Kräfte hatten sie vor Schlimmeren bewahrt. Sie musste jetzt die Zähne zusammenbeißen.
„Ich habe es dem Grafen versprochen. Ich will seine Güte nicht missbrauchen.“
„Wie Ihr wünscht.“
Die Zofe rief den Arzt, damit er ihr einen frischen Verband auf die Wunde auf der Stirn klebte, dann richtete sie ihr das Haar.
Als Adonia nach ihrer Tasche griff, denn sie brauchte ja den Liebestrank, sah die Zofe fragend darauf. „Wollt Ihr diese wirklich mitnehmen? Sie wird Euch während des Mahls behindern.“
Adonia sah sie einen Moment ratlos an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Auf den Straßen in Loverna hatten die reichen Damen immer eine Handtasche dabei, die sie auf dem Tisch oder einem freien Stuhl neben sich im Café ablegten. Sie war davon ausgegangen, dass es hier genauso wäre. Aber sie ging nicht in ein Café.
Sie schüttelte den Kopf und legte die Tasche auf den Nachttisch neben ihrem Bett.
„Vielleicht möchtet Ihr noch Euer Taschentuch herausnehmen? Ihr könnt es in den Ärmel stecken.“ Die Zofe lächelte freundlich.
Adonia errötete. „Natürlich“, murmelte sie. Nahm das Taschentuch und steckte es in den Ärmel. Das ging ja gut los. Sie fühlte sich wie ein Bauerntrampel. Wenn sie jetzt schon einen Fehler nach dem anderen machte, wie sollte das erst beim Festmahl werden? Die Gäste würden sofort merken, dass sie keine von ihnen war.
„Ihr seid sicher erschöpft und es ist nahezu unmöglich, sich die vielen Regeln, welche die Etikette bei Hof vorschreibt, zu merken, zumal sie sich auch noch von Hof zu Hof unterscheiden.“
Adonia lächelte der jungen Frau zu, dankbar für diese Ausrede und ihre Freundlichkeit ohne jegliche Wertung. Beinahe kam sie in Versuchung von ihrem Vorhaben abzulassen, doch sie war schon so weit gekommen, sie konnte nicht zurück.
„Ihr habt so recht. Vielleicht sollte ich auch nicht zu lange bleiben, nur so lange, wie es der Anstand verlangt.“ 
Die Zofe nickte zustimmend, reichte ihr den Arm und bedeutete Adonia, sich auf sie zu stützen. „Ich werde in Eurer Nähe bleiben, falls Ihr mich braucht.“
Adonia nahm den Arm dankbar an, sie war in der Tat etwas wacklig auf den Beinen. Als sie den Saal ereichten, eilte der Graf erfreut an ihre Seite. Adonia sah sich in dem vollen Raum um. Alle Blicke richteten sich auf sie, hinter vorgehaltener Hand wurde getuschelt. Der Graf hatte sie zu seiner Rechten platziert, einem Platz, der sicher nicht ihr gebührte. Unter den aufmerksamen Blicken der Gäste hätte sie dem Grafen niemals etwas in den Wein schütten können. Ohne den Liebestrank musste sie ihn mit ihrem Charme bei Laune halten. Während des Festmahls schlug sie sich gut, das hatte sie zur Genüge geübt. Niemand starrte sie an, während sich alle über die edlen Speisen hermachten. Der Graf fragte sie aus und so erzählte sie ihm die Geschichte, die sie von dem Kammermädchen und dem Kutscher erfahren hatte. Dass sie die Tochter der ersten Frau des Grafen Seda von Rovigo war, der er auf dem Sterbebett versprochen hatte, sich um ihre Tochter zu kümmern. Sie hatte fast zwei Jahre in Skala verbracht, da sie eine schwache Lunge habe und schnell erschöpft sei. Die Meeresluft hatte ihr gutgetan, doch jetzt hatte er sie zurück an seinen Hof gerufen, weil er sie verheiraten wolle. Der Graf hörte aufmerksam zu und sie konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn rumorte. Sie hatte ihn schon an der Angel.
Sie schlug schüchtern die Augen nieder, nur um ihn dann einen Moment später mit feuchtem Blick tief in die Augen zu schauen. „Ich hoffe, er findet einen Mann für mich, der genauso gütig ist, wie Ihr es seid, Eure Erlaucht.“
Der Graf lächelte und klopfte ihr sacht auf die Hand. „Da bin ich mir sicher, mein liebes Kind.“
Adonia ließ sich schwer atmend in den Stuhl sinken, legte die Hand auf ihre Brust und schloss für einen Moment die Augen.
„Geht es Euch nicht gut, meine Teure?“ Der Graf ergriff ihre Hand und Adonia schlug die Augen auf.
„Ich fürchte, es geht mir doch nicht so gut, wie ich dachte. Verzeiht mir.“
„Aber nicht doch, ich hätte Euch nicht bitten sollen.“ Der Graf winkte der bereits herbeieilenden Zofe zu.
„Zieht Euch zurück. Ich werde später nach Euch schauen. Ihr habt noch nicht den Wein aus Loverna probiert. Ein Glas guten Weins vorm Schlafengehen wird Euch guttun.“
Adonia schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, legte die Hand auf seinen Arm und ließ sich von der Zofe aus dem Stuhl helfen. Das späte gemeinsame Glas Wein war eine gute Gelegenheit, besser als hier vor aller Augen, um ihm den Liebestrank zu verabreichen. Vielleicht konnte sie es zur Gewohnheit werden lassen.

 

Liebestrank für den Grafen

 

Die Zofe hatte Adonia ins Bett gebracht und leistete ihr Gesellschaft, als es klopfte und der Graf das Zimmer betrat. Hinter ihm ein Diener, der ein Tablett mit rotem Wein in einer Karaffe und zwei feingeschliffenen Gläsern trug und auf dem Tisch neben Adonias Bett abstellte.
„Lasst uns allein!“
Die Zofe runzelte die Stirn und warf Adonia einen besorgten Blick zu. Adonia wusste, dass es sich nicht geziemte, denn sie war eine unverheiratete Frau, doch sie nickte ihr beruhigend zu.
„Strengt sie nicht zu sehr an, Eure Erlaucht!“ Die Zofe sah den Grafen streng an und er errötete etwas.
Als die Zofe hinter sich die Tür schloss, lachte er empört. „Was diese Person sich nur erlaubt.“ Dann goss er den Wein in die Gläser.
„Sie meint es sicher gut, sie muss meine Ehre schützen.“ Adonia setzte sich auf, die Fläschchen mit dem Liebestrank fest in der Hand.
Der Graf plusterte sich auf. „Ich würde mich niemals Euch ungebührlich nähern!“
Adonia deutete auf ein Tuch am anderen Ende des Zimmers. „Würdet Ihr mir das bringen? Mir ist recht kühl im Sitzen.“
Während er dies nach einer leichten Verbeugung tat, gab sie je einen kleinen Schluck des Trankes in die Gläser. Bei ihr würde der Trank nichts bewirken, das hatte sie probiert. Der Graf legt ihr fürsorglich das Tuch um die Schultern und reichte ihr das Glas.
Er stieß mit ihr an und nahm einen tiefen Schluck. Adonia nippte daran und bemühte sich, nicht das Gesicht zu verziehen. Der Wein war sehr süß.
„Ich frage mich, meine Liebe, ob Euer Ziehvater mich als Mann für Euch in Betracht ziehen würde. Meine Grafschaft ist recht wohlhabend, der Wein ist im ganzen Königreich berühmt. Ich bin im besten Mannesalter, habe noch viele Jahre vor mir und wollte sie nicht alleine verbringen.“ Er trank sein Glas aus und Adonia tat es ihm gleich, um ihr breites Lächeln zu verbergen. Ihre Wangen röteten sich und sie tat so, als wäre sie beschämt.
„Graf, Ihr schmeichelt mir.“ Sie schlug züchtig die Augen nieder, um ihn dann wieder lieblich anzulächeln. Das verstärkte die Wirkung des Trankes, der allmählich zu wirken anfangen musste.
„Nicht doch. Ihr seid sehr schön und von sanftem Charakter. Ihr habt mein Herz mit einem Blick gefangen genommen.“ Er rückte zu ihr heran, nahm ihr das Glas ab und ergriff ihre Hand. „Bitte weist mein Werben nicht ab.“ Er drückte einen feuchten Kuss auf ihre Hand und Adonia musste allen Ekel unterdrücken, um sie nicht zurückzuziehen.
„Die Entscheidung liegt nicht bei mir, sondern bei meinem Ziehvater.“ Sie atmete heftig, damit ihr Busen wogte. Der Graf kniete sich vor ihr Bett, ihre Hand immer noch in der seinen.
„Dann will ich gleich morgen um Eure Hand anhalten.“ Er drückte ihre Hand an sein heißes Gesicht, küsste sie erneut und erhob sich dann. „Ich lasse Euch nun in Ruhe schlafen. Wenn ihr Morgen wieder bei Kräften seid, werde ich Euch das Schloss zeigen, das hoffentlich auch bald Euer Schloss sein wird.“
Darauf verließ er nach einer letzten Verbeugung das Zimmer und Adonia ließ sich in die Kissen sinken. Das wäre geschafft.

Hochzeitsvorbereitungen

 

„Glaubt nicht, dass ich nicht erkannt habe, was Ihr tut!“ Adonia zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, wie sich die Tochter des Grafen ihr genähert hatte. Sie war im Garten spazieren gegangen und hatte die letzten warmen Sonnenstrahlen der Herbstsonne genossen. Heute Morgen beim Frühstück hatte der Graf freudestrahlend verkündet, dass er bei Adonias Ziehvater um ihre Hand angehalten habe und bald mit freudiger Nachricht rechne. Seine Tochter hatte ein Gesicht gezogen, als ob sie auf eine Zitrone gebissen hätte.
„Ich weiß nicht, was Ihr meint!“ Adonia gab sich betont unschuldig.
„Ihr habt meinem Vater den Kopf verdreht und wollt Euch der Grafschaft bemächtigen. Aber das werden mein Bruder und ich nicht zulassen. Er ist der rechtmäßige Erbe und falls er keine Nachkommen hat, werden es meine Kinder sein!“
Adonia sah sie erstaunt an. Soweit sie wusste, war die Tochter erst seit einigen Wochen verheiratet und noch kinderlos und der Sohn hatte alles andere im Kopf als eine Heirat. Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, dem Grafen ein Kind zu schenken und so an Macht zu gelangen, denn der Herr bestimmte, wer von seinen Kindern der Erbe des Titels war. Ihr war bewusst, dass sie zuerst seine Kinder beseitigen musste, bevor sie den Grafen töten konnte. Es würde ihr nichts ausmachen. Der Sohn war ein lüsterner Trunkenbold. Sie hatte heute Morgen seine Hand von ihrer Hüfte pflücken müssen. Sein Atem hatte nach Wein gerochen. Und die Tochter des Grafen war eine mürrische rechthaberische Person, die sich überall einmischte. Niemand würde sie vermissen.
„Ich denke, dass dies die Entscheidung des Grafen sein wird!“ Adonias Stimme war kühl und schneidend, ihre Augen kalt.
Die Tochter raffte ihre Röcke und wandte sich um. „Wir werden sehen!“, sagte sie über die Schulter und drängte sich an der Zofe vorbei, die Adonia in gebührendem Abstand gefolgt war.
„Geht es Euch gut?“ Sie griff besorgt nach Adonias Arm, um sie zu stützen. Adonia schwankte für einen Moment. Wann immer ihr Hass begegnete, kam in ihr die altvertraute Angst hoch und drohte ihr den Atem zu rauben.
„Sie ist nicht sehr freundlich.“
„Nein!“ Das eine Wort der Zofe sagte alles.
Adonia ließ sich zurück in ihr Zimmer führen. Sie mußte unbedingt ihr Hexenhaus aufsuchen und den Stein und verschiedene Tränke und Pulver holen. Sie musste vorbereitet sein, um den Grafen weiter unter Kontrolle zu halten und wenn sich eine Gelegenheit ergab, um die Kinder des Grafen zu beseitigen. Sie musste es spätestens morgen tun. Sie hatte eine Portion Wirklichkeitspulver dabei und ein einfaches Kleid in ihrem Koffer, so konnte sie sich als Magd tarnen. 
Sie zog sich nach dem Mittagsimbiss zurück und gab vor Schlafen zu wollen. Es gelang ihr auch, die Zofe wegzuschicken.

Im Hexenhaus packte sie in aller Eile ihre kleine Truhe, einen Sack mit Wirklichkeitspulver, zwei Flaschen des Liebestrankes, sowie eine Flasche des Gefügigkeitstrankes und des Wahrheitstrankes in eine Tasche. Sie suchte zwei verschiedenen Gifte aus. Ein langsam wirkendes, das sie dem Grafen ebenfalls in den Wein mischen wollte und ein schnell wirkendes, in das sie eine Nadel oder ein kleines Messer tauchen konnte. Dann versteckte sie ihre Hütte mit dem Wirklichkeitszauber, damit sie aussah, wie ihr alter halbzerfallener Unterschlupf.


Hochzeit und ein Todesfall

 

Endlich war Frühling. Die Tage wurden wärmer, im Garten blühten Tulpen, Narzissen und Veilchen und lockten viele Bienen an, dass es nur so brummte. Der Graf Seda von Rovigo hatte dem Grafen Barum zu Dörenberg die Erlaubnis erteilt, Adonia zu heiraten. Die Hochzeit sollte in zwei Tagen stattfinden. Das Schloss war geputzt, der ganze Garten mit Schleifen geschmückt. Die ersten Gäste waren schon angereist.
Ursprünglich hatte Adonias Ziehvater selbst an der Hochzeit teilnehmen und die Mitgift überreichen wollen, doch eine wichtige Angelegenheit am Hofe des Königs verhinderte ihn kurzfristig. Stattdessen hatte er seinen Bruder geschickt. Adonia hatte sich die ganze Zeit Sorgen gemacht, dass der Graf erkennen würde, dass sie nicht die Tochter seiner verstorbenen Frau war, und war dementsprechend erleichtert. Der Bruder akzeptierte sie sofort für die, als die sie sich ausgab und machte ihr einige Komplimente, die sie für unangebracht hielt. Wieso benahmen Männer sich immer so? Nie wurde sie als Mensch wahrgenommen, immer nur als Objekt der Begierde.
Auch des Grafen Tochter war bereits eingetroffen und verbreitete schlechte Laune. Adonia bemühte sich, ihr aus dem Weg zu gehen, doch bei Tisch ließ es sich kaum vermeiden und ihr entgingen die spitzen Bemerkungen der Tochter nicht. Den Grafen hatte sie gut im Griff. Völlig vom Liebestrank benebelt, tat er alles, was sie von ihm verlangte.
Er hatte seiner Tochter verbieten wollen, nach wie vor mindestens einmal im Monat im Schloss zu erscheinen und nach dem Rechten zu sehen, wie sie es nannte. Adonia mochte sie zwar nicht, aber da sie sich noch immer so benahm, als ob sie die Hausherrin wäre, ließ Adonia sie gewähren. Sie lernte von ihr, was sie zu tun hatte, wenn sie einmal Gräfin war. Adonia zu Liebe hatte der Graf dieses Verhalten weiter geduldet und es hatte sich ausgezahlt. Mittlerweile gehorchte das Gesinde ihren Befehlen.

In einer feierlichen Zeremonie steckte der Graf ihr den Ring an den Finger. Der Bruder ihres Ziehvaters bezeugte das Bündnis und beide unterschrieben die Heiratsurkunde. Sie besagte, dass der Graf von nun an für Adonia verantwortlich war und der Graf von Rovigo keine Verpflichtungen ihr gegenüber innehatte, da sie nicht leiblich verwandt waren. Es hatte schon einiges Getuschel dazu gegeben, doch Adonia hatte es nicht geschafft, es zu unterbinden. Sie fühlte, dass es den Respekt ihr gegenüber untergrub.

Nach der Zeremonie gab es Tee und Kuchen im Garten. Adonia hielt sich in der Nähe der Tochter des Grafen auf. Als diese wieder zu einer bissigen Bemerkung ansetzte und dabei ihr über den Spitzenkragen ihres Hochzeitskleides strich, zog Adonia blitzschnell eine vergiftete Haarnadel aus ihrer Frisur und stach sie ihr in die Hand. Die Tochter starrte sie überrascht mit aufgerissenem Mund an, versuchte, Luft zu holen, zu schreien, doch ihre Lungen hatten sich bereits verkrampft. In einigen Augenblicken würde ihr Herz stehen bleiben. Adonia hielt sie aufrecht und fing rasch eine der Bienen von den Blumen neben ihr und drückte diese auf die Einstichstelle. Das aufgeregt brummende Insekt stach zu. Adonia hielt die Tochter des Grafen noch für einen Moment aufrecht, ließ sie dann fallen und fing an zu schreien. Der Graf eilte zu ihr während sein Sohn nach seiner Schwester schaute. Auch ihr Mann eilte an ihre Seite.
„Sie atmet nicht mehr!“ Panik klang in der Stimme des Ehemannes mit.
Adonia schluchzte. „Die Biene, sie hat sie gestochen. Sie wollte schreien, doch es kam kein Laut aus ihr heraus. Dann hat sie die Augen verdreht und ist umgefallen.“
Der Graf streichelte sie beruhigend. „Mein armes Täubchen, was musst du alles nur miterleben.“ Er ließ sie von ihrer Zofe ins Bett bringen und kam später zu ihr. Es würde ein ruhiges Abendmahl mit den Gästen geben, in Gedenken an seine Tochter. Adonia bestand darauf, teilzunehmen. Sie war nun seine Frau und sollte an seiner Seite sein. Es war wichtig, dass alle das begriffen.

Vorbereitungen für einen weiteren Todesfall

 

Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen. Adonia hatte sich in den letzten Monaten in ihre Rolle als Hausherrin hineingefunden. Die Angestellten waren über den plötzlichen Tod der Tochter des Grafen schockiert gewesen, doch da nun niemand mehr Adonia bei ihnen schlecht machte, begannen sie, sich mit ihr abzufinden.
Dem Grafen mischte sie seit einigen Wochen immer wieder Gift in den Wein, sodass er mit Krämpfen niederlag. Sie kümmerte sie aufopferungsvoll um ihn, ließ sich vom Arzt und vom Verwalter beraten und lernte, was sie nur lernen konnte. Schließlich musste sie die Grafschaft allein führen, wenn der Graf nicht mehr war. Sie hatte sich schnell an dieses Leben im Überfluss gewöhnt, die schönen Kleider, das gute Essen, bedient zu werden und vor allem Gesellschaft zu haben, wenn sie es wünschte. Die Zofe, die sie am ersten Abend bediente, war bei ihr geblieben, dazu hatte der Graf ihr zwei weitere ausgesucht, die sich um sie kümmerten.
Diese mochte sie nicht, denn sie tuschelten hinter ihrem Rücken, lästerten über sie, wenn sie etwas falsch machte. Doch sie hatte schon herausgefunden, dass sie ihnen zur Entlassung eine Beurteilung schreiben musste. Die alte Gräfin hatte Abschriften in der kleinen Bibliothek in ihren Gemächern, die nun Adonias waren, aufbewahrt. Es würde ihr ein Vergnügen sein, ihnen ihre Boshaftigkeiten heimzuzahlen. Sie war nun wer, niemand sollte mehr auf ihr herumtrampeln.
Aber bevor sie den Grafen beseitigen konnte, musste sie sich erst seines Sohnes entledigen. Hin und wieder ließ sie sich von ihm auf ein Glas Wein einladen, sodass sie immer die Möglichkeit hatte, ihm etwas in den Wein zu tun. Sie wollte ihn nicht vergiften, so wie seinen Vater, für ihn hatte sie andere Pläne. Sie musste vorsichtig sein. Es durfte kein Verdacht auf sie fallen.
In einigen Wochen würde wieder die Jagd stattfinden. Der Graf hatte die Einladungen bereits versendet. Ein schöner Jagdunfall würde keinen Verdacht erregen, vor allem, weil bekannt war, dass der Sohn auch betrunken ritt. Sie würde dafür sorgen, dass der Graf das Bett hüten musste. Nur er konnte seinem Sohn Einhalt gebieten, und er würde nicht da sein.

Im Morgengrauen schlich sich Adonia in das Zimmer des Sohnes. Sie gab etwas von dem Gefügigkeitstrank in das halbleere Glas von gestern Abend. Da hatte sie ihm ebenfalls schon etwas in den Wein getan. Sie weckte ihm und flößte ihm den Trank ein. Nach einigen Augenblicken sah er sie verträumt an.
Adonia lächelte. „Du wirst dich heute wieder betrinken, aber nicht so sehr, dass du nicht mehr auf das Pferd steigen kannst. Du wirst an der Jagd teilnehmen und schnell über unebenes Gelände galoppieren. Lass dein Pferd ruhig über umgefallene Bäume springen, es wird es lieben.“
Der Sohn grinste breit und nickte.
Adonia verschwand aus seinem Zimmer und klingelte nach ihren Zofen, damit diese sie für den Tag vorbereiteten. Der Graf lag wie geplant mit Magenkrämpfen in seinem Bett und so lag es an ihr, die Gäste während der Jagd zu unterhalten. Sie hatte Gefallen an den Festen gefunden und beabsichtigte diese auch weiterhin durchzuführen. Die Grafen und Herzöge brachten ihre erwachsenen Söhne und Töchter mit, und es waren ansehnliche Burschen darunter.
Adonia hatte sich bis jetzt nie etwas aus Männern gemacht, hatten sie doch meist Gewalt und Schläge bedeutet. Aber warum sollte sie den Spieß nicht umdrehen? Warum sollte sie diese Männer nicht benutzen, so wie sie darauf aus waren, Frauen auszunutzen?

Adonia ging in den Stall, die Pferde wurden bereits gesattelt. Sie streichelte ihrer Stute über die Nase. Sie war ein Hochzeitsgeschenk des Grafen gewesen und sie ritt fast täglich aus, nachdem sie es gelernt hatte. Sie schlenderte auch zu dem schlanken Grauen, der dem Sohn gehörte. Sie seufzte, es war schade um das Tier, aber wahrscheinlich würde es sich nicht vermeiden lassen, dass es bei dem Unfall Schaden nahm. Es schnaubte und sie hielt ihm den Apfel hin, in den sie ein langsam wirkendes Schlafmittel gespritzt hatte. Der Graue schnupperte daran und fraß ihn schließlich.

 

Willkommener Jagdunfall

 

Die Jagdteilnehmer sammelten sich auf dem Schlosshof. Bald würden sie zu den Feldern am Waldrand zwischen Loverna und Albach aufbrechen, wo auch dieses Jahr die Jagd stattfinden sollte. Adonia hielt sich bei den Damen, sie würden die Straße nehmen, bevor sie auf das Feld ritten und sich den Männern anschlossen. Einige von ihnen wollten querfeldein durch den Wald reiten und mit den Fähigkeiten ihrer Pferde prahlen. 
Sie behielt den Sohn die ganze Zeit im Blick. Sein Pferd zeigte erste Anzeichen von Müdigkeit. Sie hatte ihm nicht so viel gegeben, dass es umfallen würde, nur, dass es nicht mehr so sicher auf den Beinen war. Der Sohn war wie gehofft angetrunken und übermütig.
Endlich gab der Verwalter das Zeichen zum Aufbruch. In Abwesenheit des Grafen war er der Jagdleiter. Er würde die Treiber anweisen und dann das Zeichen zum Schießen geben.
Adonia legte einen gemächlichen Gang vor, als sie der Straße nach Loverna folgte. Sie hoffte, wenn sie auf dem Feld angekommen war, dass der Sohn bereits vom Pferd gefallen war und sich den Hals gebrochen hatte.
Sie konnte in der Ferne das übermütige Rufen der Reitenden hören, dazu das Knacken der Äste, wenn sie Büsche durchbrachen. Die Treiber waren dicht hinter ihnen. Adonia spitzte die Ohren, allmählich musste der Graue doch ins Straucheln geraten. Ein Schrei drang an ihre Ohren, aus den fröhlichen Rufen wurden aufgeregte Schreie.
Die Damen und älteren Herren um sie herum bekamen davon nichts mit, ihr Gehör war bei weitem nicht so gut. Adonia unterdrückte ihre Aufregung. Es hatte einen Unfall gegeben, dessen war sie sich sicher. Hatte es aber den Richtigen getroffen?
 Als sie den Sammelplatz auf dem Feld erreichten und die Herren sich zu den markierten Stellen begaben, von denen sie aus das aus dem Wald getriebene Wild mit ihren Armbrüsten abschießen konnten, gab es Unruhe am Waldrand. Der Verwalter kam auf sie zugeritten, sprang vor ihr vom Pferd.
„Eure Erlaucht, so ein Unglück, der Graf wird untröstlich sein!“
Adonia unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen und runzelte besorgt die Stirn.
„Was ist passiert, nun reden Sie doch!“
„Es war ein Unfall. Das Pferd seines Sohnes ist gestolpert, er hat den Halt verloren, ist runtergerutscht und es ist auf ihn gefallen.“
Adonia schlug mit einem Aufschrei die Hand vor den Mund, schwankte und ließ sich gezielt in die Arme ihrer sofort zu ihr geeilten Zofen sinken. „Was ist mit ihm? Er lebt doch noch?“
Der Verwalter schüttelte bedauernd den Kopf. „Es ist noch Leben in ihm, aber ich fürchte, nicht mehr lange. Das Pferd hat auf seinem Brustkorb gelegen und ihm die Rippen gebrochen. Er hustet Blut. Er wird es nicht überleben. Sie bringen ihn jetzt heraus.“
Adonia richtete sich auf. „Ich will zu ihm. Er muss durchhalten. Der Graf wird seinen Verlust sobald nach dem Tod seiner Tochter nicht verkraften.“ Adonia ließ sich auf ihr Pferd helfen und ritt zu den Gästen, die sich um den Sohn scharrten, der auf einer improvisierten Bahre lag. Sie stieg ab und kniete sich neben ihn. Sie nahm seine zitternde Hand. Er drückte noch einmal zu, atmete röchelnd und erschlaffte. Adonia drückte einige Tränen hervor und wehklagte. Sanfte Hände halfen ihr hoch, ein Arm wurde tröstend um sie gelegt. Niemand schöpfte Verdacht, dass sie das eingefädelt hatte.

Rache

 

Adonia schaute in der Küche nach dem Rechten. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag einen Rundgang zu machen. Es gefiel ihr, zu bestimmen und Anweisungen zugeben. Der Graf lag seit Wochen mit nur wenigen Unterbrechungen im Bett. Die Bediensteten hofften, dass er sich erholen würde, sie wollten Adonia nicht als Herrin haben. Die Worte der Tochter waren noch nicht vergessen. Nun, sie waren ja auch wahr. Und wenn sie nicht bald freiwillig sie als ihre rechtmäßige Herrin anerkannten, würde sie dafür sorgen. Sie hatte genau im Blick, wer ihr misstraute und ihr Schwierigkeiten machen würde.
In den wenigen Stunden, in denen sie dem Grafen eine Pause gönnte und es ihm besser ging, berieten sie über die Umbaupläne. Es sollte ein neuer Flügel gebaut werden, in den der Graf ziehen wollte, mit Blick auf den Garten und den Fluss. Einige Gästezimmer sollten ebenfalls dort entstehen. Seine jetzigen Räume waren für seinen Sohn und seine Frau bestimmt gewesen, sofern er denn eine geheiratet hätte. Der Graf schien immer wieder zu vergessen, dass er tot war. Der Arzt war besorgt. Adonia wusste, dass es zur Wirkung des Giftes gehörte. Sie würde bald die Dosis erhöhen und ihn endlich töten.
Er hatte in ihrer Meinung zwar noch nicht genug gelitten, doch sie hatte keine Lust mehr, sich um ihn zu kümmern. Sie wollte nicht mehr an seinem Bett wachen, wenn er sich in Krämpfen wand, oder ihm geduldig zuhören, wenn er von den Plänen des Neubaus faselte. Sie hatte längst eigene Pläne. Sie war es leid, seine schwitzigen Hände auf ihren Hüften, Beinen und Schultern zu spüren, ließ sich nur mit Schaudern von ihm küssen. Zu mehr war er, dem Himmel sei Dank, nicht im Stande und sie hatte ihn hingehalten, bevor er krank geworden war.

Dem Grafen ging es nun von Tag zu Tag schlechter. Er lag im Sterben. Der Arzt aus Loverna war ratlos. Er hatte etwas derartiges noch nie gesehen und vermutete eine Krankheit, vielleicht von einem Tier bei der Jagd übertragen oder von einem der Insekten aus dem Garten.
Adonia wusste es besser, doch sie spielte ihre Rolle gut. Sie war verzweifelt, war sie dann doch ganz allein. Der Verwalter redete ihr gut zu, versprach ihr, alles in seiner Macht zu tun und sie zu unterstützen. Sie durfte nur nicht aufgeben. Auch ihre Zofe war ihr eine Stütze, Adonia tat es fast leid, dass sie sie täuschen musste. Zumindest sie hatte sich eine gute Beurteilung verdient.

 

Die Angst bleibt.

 

Adonia wachte seit Stunden am Bett des Grafen. Sein Atem ging röchelnd. Es musste nun jeden Augenblick zu Ende sein. Der Arzt neben ihr war fest in seinem Sessel eingeschlafen, auch ihre Zofe nickte immer wieder ein.
Das Röcheln wurde lauter und Adonia neigte sich über den Grafen. Sein Gesicht lief erst rot an und wurde langsam blau. Adonia warf einen Blick auf den Arzt und die Zofe, die immer noch schliefen und nichts bemerkten. Sie beugte sich über den Grafen, stütze sich dabei leicht auf seine Brust. Seine Augen quollen ihm fast aus dem Kopf in der Anstrengung, gegen den Druck Luft zu holen.
„Ihr habt meine Mutter verjagt und sie zu einem Leben in Elend verdammt. Dafür habt Ihr jetzt gebüßt.“
Der Graf keuchte, versuchte, etwas zu sagen, doch erschlaffte, bevor er ein Wort herausbrachte.
Adonia ließ von ihm ab, legte ihr Ohr auf seine Brust und lauschte nach einem Herzschlag und hörte nichts. Sie hielt ihre Hand vor seinen Mund und spürte keinen Atemzug. Er war tot.
Sie setzte sich auf, fühlte in sich hinein. Sollte sie jetzt nicht erleichtert und glücklich sein? Sie hatte ihre Mutter gerächt. Doch sie fühlte nichts von dem. Sie war leer und sie spürte, dass dahinter die Angst lauerte, die sie schon ihr ganzes Leben begleitete. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Brust, dann ein weiteres. Tränen liefen und sie schrie ihre Wut darüber hinaus, dass ihr Plan nicht aufgegangen war. Sie hatte sich nicht befreit, sie war nach wie vor eine Gefangene. Der Arzt und die Zofe schraken hoch und eilten ans Bett. Während der Arzt den Grafen untersuchte und ebenfalls seinen Tod feststellte, versuchte die Zofe Adonia zu beruhigen. Schließlich gab der Arzt ihr ein Beruhigungsmittel und die Zofe brachte sie ins Bett.

Adonia stand am offenen Grab. Der Graf wurde wie alle seine Vorfahren in der Gruft in der Ecke des Gartens bestattet. Sie hatte nur wenige Gäste eingeladen, dem Gesinde hatte sie erlaubt, an der Trauerfeier teilzunehmen. Auch für die Bediensteten würde es einen Leichenschmaus geben. Der Verwalter hatte ihr dazu geraten, sie hatte den Sinn darin gesehen.
Sie hatte in den letzten Tagen lange überlegt, wie sie nun ihre neugewonnene Macht einsetzen wollte. Sie würde mit allen Mitteln für ihre Sicherheit sorgen, niemand würde ihr mehr etwas tun können, sie würde niemandem mehr gehorchen müssen. Die Angst war geblieben und sie hatte die letzten Nächte wieder Albträume gehabt. Würde es mit der Zeit nachlassen, oder würde es nie enden?

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© Sabine Kalkowski